Qiang und Chan schauten sie fragend an.
„Ja, das ist richtig“, pflichtete Klaus ihr sofort bei. „Wenn ich bedenke, wie das noch zu meiner Schulzeit aussah und wieviel Mühe es – über Jahrzehnte! – gekostet hat, den jetzigen Zustand zu erreichen, dann können wir uns wirklich glücklich schätzen, daß wir überhaupt so weit gekommen sind. Also ich hatte, ehrlich gesagt, schon nicht mehr daran geglaubt. Und ich bin mir ziemlich sicher, die Deutschen allein – ohne die EU – wären noch längst nicht soweit, sie würden sich immer noch um Kaisers Bart streiten.“
„Wie meinst du das?“ wollte Chan wissen.
„Ach weißt du, das ist so eine Redewendung bei uns“, erklärte Klaus, „wenn sich die Leute um Nebensächlichkeiten streiten, anstatt sich um das Wichtige zu kümmern. Ich will damit sagen, es gab sehr viele Selbst-Berufene aller möglichen Couleur, die sich in schönen Sonntagsreden darüber ausließen, wie wichtig eine gute Bildung für unsere Zukunftschancen sei und daß man deshalb jedes einzelne Kind optimal fördern müsse, aber in der Praxis änderte sich leider nur wenig bis nichts. Es wurden zwar hier und da mal einige Versuche in die eine oder andere Richtung unternommen, es blieb dann allerdings meistens beim Experimentieren. Neue Konzepte wurden nicht umgesetzt, weil man sich schon über die konkreten Vorschläge nicht einigen konnte. Statt dessen wurden hitzige Debatten über das bessere System und die Bezahlbarkeit geführt. Kaum hatte einer einen Verbesserungsvorschlag gemacht, dann meldeten sich auch sogleich etliche Bedenkenträger und Besserwisser zu Worte und erklärten, daß der Vorschlag aus diesen und jenen Gründen nichts tauge und daß sie ihn deshalb auf gar keinen Fall mittragen könnten. Es gab teils heftige gegenseitige Beschuldigungen zwischen Pädagogen, Schülern, Eltern, Kultusbeamten, Politikern und Medien wegen fehlender Bereitstellung der notwendigen Finanzmittel durch die Politiker, wegen Ignoranz und falscher Prioritätensetzung der Kultusbeamten, wegen mangelnder Fähigkeiten der Pädagogen, wegen desinteressierter, unerzogener und gewaltbereiter Kinder, wegen Erziehungsversäumnissen der Eltern, und so weiter. Der ‚Schwarze Peter’ wurde immer im Kreis herumgereicht. Es war eine endlose, zum Teil äußerst kleinkarierte und in der Summe völlig unfruchtbare Streiterei. Genauso die Parteien: Keine Seite gönnte der anderen einen Erfolg, indem sie ihr auch mal zugestand, einen brauchbaren Vorschlag gemacht zu haben, und dessen Umsetzung dann auch zu unterstützen. Nein, aus reiner Prinzipienreiterei oder Parteitaktik wurde dann lieber gar nichts unternommen, und alles blieb in dem allseits beklagten Zustand.“
„Ja, leider viel zu lange“, hakte Ellen ein. „Für mich völlig unverständlich ist vor allem, daß insbesondere die Kultusminister, deren ureigene Aufgabe es ja gerade war, für das bestmögliche Schulsystem zu sorgen, daß ausgerechnet die so lange die von vielen Fachleuten empfohlenen Systemverbesserungen ignorierten und penetrant ihr altes, längst überholtes mehrgliedriges Schulsystem, in dem die Schüler bereits nach der vierten Klasse auf unterschiedliche Schularten – Hauptschule, Realschule, Gymnasium – verteilt wurden, verteidigten. Schon nach der vierten Klasse! Da kann man doch noch gar nicht richtig beurteilen, was wirklich in einem Kind drinsteckt! Vor allem die sogenannten Spätentwickler wurden auf diese Weise ihrer Chancen beraubt. Aber die Selektion war unerbittlich, und die in die Hauptschulen Abgeschobenen ahnten sehr bald, daß ihre Berufsaussichten mehr als hoffnungslos waren. Die natürliche Folge: Frust und Resignation in steigendem Maße, geringes Selbstwertgefühl und zunehmende Empfänglichkeit für ‚Heilsbotschaften’, Abrutschen in Gauner- und Verbrecherkreise, erhöhte Gewaltbereitschaft, steigende Belastung für die Gesellschaft – eine unheilvolle Spirale in das Verderben. Das ist aber leider noch nicht das Ende der Story. Denn daneben gab es nämlich sogar noch eine Reihe von Sonderschulen, in die die Lernbehinderten und Langsamlerner, aber auch die Störer, die Aggressiven, die Armen, die Vernachlässigten und Migranten geschickt wurden. Anfang dieses Jahrtausends saß bereits jeder zwanzigste Schüler in Deutschland in einer Sonderschule – mit steigender Tendenz! Und von denen schafften durchschnittlich nur etwa 20 Prozent einen Schulabschluß. Daran sieht man doch, daß mit diesem Schulsystem etwas nicht stimmen kann! Denn wenn die Regelschulen einen wirklich guten Unterricht böten, dann wären die Sonderschulen völlig überflüssig, und selbst das Hauptschulniveau wäre nicht nötig. In anderen europäischen Ländern gab es genügend Beispiele für bessere Schulsysteme, was durch die vergleichenden PISA-Studien immer wieder bestätigt wurde. Aber in Deutschland lernte man nicht daraus, oder jedenfalls viel zu spät und zu langsam. Und selbst als Deutschland von der UN eine ‚Politik der Absonderung’ attestiert wurde, scherte das die Kultusminister in keiner Weise. Im Gegenteil, mit einem gerüttelt Maß an Arroganz unterstellten sie dem zuständigen UN-Inspektor, keine Ahnung vom ‚hervorragenden deutschen Bildungswesen’ zu haben.“
Das war nun genau das Stichwort, auf das Klaus schon lange gewartet hatte, um seinen zuvor von Ellen unterbrochenen Redefluß wiederaufnehmen zu können und nahtlos mit seiner Schimpfkanonade fortzusetzen:
„Und das war ja nicht nur in der Schulpolitik so. Überall wurde blockiert. Es fehlte schlicht und einfach der Wille zu einer Einigung! Das war ganz evident! Unsere Politiker handelten nicht mehr im Interesse und zum Wohle Deutschlands, wozu sie eigentlich verpflichtet waren, sondern nur noch taktiererisch im Sinne ihrer Partei und für sich selbst! Wichtige gesellschaftliche Themen, die dringend einer Entscheidung bedurft hätten, dümpelten in Form von durch ständige Wiederholungen abgedroschenen Sprechblasen und leeren Worthülsen plan- und ziellos bis zum Überdruß durch den Raum und verschwanden schließlich wieder, ohne daß sich auch nur das Geringste im Sinne einer Problemlösung getan hätte. Nein, nein! Es war schlicht deprimierend, diese krasse Diskrepanz zwischen vorgetäuschter Aktivität, die sich lediglich in verbalen Scheingefechten und eitler Selbstdarstellung erschöpfte, einerseits und Lethargie bis zur Ohnmacht im Handeln andererseits mit ansehen zu müssen. Es ist traurig, aber wahr: Die ganze politische Klasse in Deutschland hat seinerzeit völlig versagt!“
Ellen versuchte durch Handzeichen, mäßigend auf ihren Mann einzuwirken, und sagte, den Wangs zugewandt, entschuldigend: „Bei dem Thema kann er sich immer so richtig in Rage reden.“
„Darüber kann man sich ja auch aufregen!“ entrüstete Klaus sich, deutlich lauter werdend. „Nein, darüber muß man sich sogar aufregen! So etwas ist völlig inakzeptabel! Wenn wir in der Wirtschaft so agieren würden wie die Politiker in der ‚Deutschland AG‘, dann wären die Unternehmen längst pleite!“
„Dabei war es ziemlich egal, welche Partei gerade an der Regierung war“, ergänzte Ellen. „Deshalb haben wir uns bei jeder Wahl mit unserer Entscheidung, wen wir eigentlich wählen sollten, immer wieder sehr schwer getan.“
„Und wir haben ja dauernd Wahlen“, ergänzte Klaus und zählte auf: „Eine Wahl zum europäischen Parlament, eine Bundestagswahl, sechzehn Landtagswahlen und dann noch die Gemeinderatswahlen! Jede Partei möchte natürlich gewinnen, was ja verständlich ist. Aber daß deswegen überhaupt nichts mehr voran geht, nur noch Stillstand herrscht und Lähmung sich wie Mehltau über das ganze Land ausbreitet, das ist für mich völlig unverständlich, ja, das ist sogar in höchstem Maße skandalös! Da muß ich mich einfach aufregen! . . . Ja, und dann immer noch dieses Kleinstaaterei-Denken“, echauffierte sich Klaus weiter, „das die Leute einfach nicht aus den Köpfen kriegen – bis heute nicht! Jeder kleine Landesfürst ist eben ein Fürst, und er verteidigt seine angestammten landeshoheitlichen Rechte, wie zum Beispiel auch die Kulturhoheit – und damit komme ich mal wieder auf unser Thema zurück –, mit Zähnen und Klauen. Stellt euch das mal vor: In jedem noch so kleinen Bundesland hatten sie ihre eigenen Lehrpläne und Schulbücher. Wenn du da von einem Bundesland in ein anderes umziehen wolltest oder mußtest – und von uns wurde Mobilität