Lediglich in der Chemiestunde konnte er sich wieder voll und ganz konzentrieren. Chemie war seine große Stärke. Er mochte es, Flüssigkeiten miteinander zu vermischen, um eine Reaktion hervorzurufen. Im Grunde hing alles von der Dosis und präzisem Vorgehen ab. Alles musste geplant und durchdacht werden – ein Schritt nach dem anderen.
Während Johnny Natriumchlorid in das Reagenzglas füllte, dachte er daran, dass sein ganzes Leben aus Chemie bestand. Die Lügen, die er erzählte, mussten genau richtig dosiert sein, sonst wurde die Geschichte unglaubwürdig. Ein paar Details und die richtige Menge an Macho-Sprüchen – und die Mischung war perfekt. Vorsichtig schüttete er die Flüssigkeit in das Reagenzglas, die Zehn-Milliliter-Linie fest im Blick.
»Du bist Johnny Kruger, richtig?«
Mit einem Ruck fegte Johnny das Reagenzglas vom Tisch, und es zerbrach mit einem lauten Klirren. Die Flüssigkeit spritzte umher, und ein Großteil traf ihn – und Rose Carter.
Er sah, wie ihre Augen sich weiteten: »Was war da drin?«
Johnny wurde rot. Rose‘ T-Shirt war durchweicht und schmiegte sich wie eine zweite Haut an ihren Körper. Er konnte dessen Rundungen darunter erahnen. »Natriumchlorid. Tut mir wirklich leid«, stammelte er.
Sie schien nervös zu werden: »Verdammt, ich muss das abwaschen.«
»Es ist nur Salzwasser.«
Rose blickte ihn direkt an. »Oh, das bringt mich direkt zum Grund unseres Gesprächs.«
Johnny bemerkte, dass er immer noch seine Schutzbrille trug. Verlegen setzte er sie ab und zog die Handschuhe aus. »Du wolltest mit mir reden?«
»Ja, ich bin Rose Carter. Ich gehe in die Parallelklasse.«
»Ich weiß«, antwortete er – viel zu schnell.
Sie legte den Kopf schief und sah ihn belustigt an. »Ach so.« Sie hatte damit gerechnet. Das sah er ihr an. Er führte sich auf wie ein Zwölfjähriger. Wohin mit seinen Händen? Was tat er sonst mit seinen Händen? »Ich könnte ein wenig Nachhilfe in Chemie gebrauchen. Bei der letzten Klausur habe ich ziemlich versagt. Und ich will meinem Vater keinen Anlass dazu geben, mir eine zu verpassen«, sagte sie zwinkernd.
Nachhilfe? Johnny holte tief Luft. Rose Carter, die schönste Frau der gesamten Stadt, bat ihn um Nachhilfe. Er gab sich nicht einmal Mühe, entspannt zu wirken. »Natürlich helfe ich dir«, brach es aus ihm hervor.
Rose lächelte selbstgefällig, als habe sie bereits mit dieser Reaktion gerechnet. Jemand wie Rose bekam immer, was er wollte. »Ich komme dann Montag vorbei.« Sie nickte ihm kurz zu und ging zurück zu ihrem Platz.
Alle im Klassenzimmer hatten die Szene beobachtet. Die Ersten, die sich zu regen begannen, waren Johnnys Freunde, die ihm anerkennend auf die Schulter klopften und sagten: »Eine Kerbe mehr in deinem Bettpfosten. Und dann auch noch eine wie Carter.«
Johnny setzte sein machomäßiges Grinsen auf und zuckte lässig mit den Schultern, aber er spürte, wie seine Wangen glühten.
Am Montag flogen die Schulstunden nur so an Johnny vorbei. Er konnte den Nachmittag kaum erwarten. Als die Glocke ertönte, sprang er augenblicklich auf und stürmte zum Bus.
Daheim zog er sich dreimal um, entschied sich schließlich für ein blaues Shirt und schob seine Möbel hin und her, bis ihm auffiel, dass sein Verhalten lächerlich war. Er zog die Flasche Schnaps, die er vor seinen Eltern versteckte, aus dem Schrank und nahm einen kräftigen Schluck. Kurz überlegte er, das Zimmer mit Kerzen und Blumenblättern zu dekorieren, verwarf den Gedanken aber wieder. Rose sollte nicht den Eindruck gewinnen, er wolle sie verführen. Er machte eine zu große Sache aus der Nachhilfe.
Als es klingelte, war ihm, als würde er in Ohnmacht fallen. Rose trug ein luftiges Sommerkleid mit Blumenmuster. Sie sah sehr erwachsen und schick aus. Plötzlich kam er sich in Shorts und T-Shirt lächerlich vor. »Du siehst gut aus. Komm doch rein.«
Rose lächelte kurz, doch das Lächeln erreichte ihre Augen nicht. Sie wirkte, wie immer, sehr distanziert. Johnny hatte das Bedürfnis, ihre Hand zu berühren, doch er hielt sich zurück. Er durfte sich nicht wie ein Freak verhalten. Wenn er das versaute, würde sie nie wieder zu ihm kommen und er das Gespött der Schule sein.
»Sollen wir nach oben?«
»Bitte?« Sie schien in Gedanken woanders zu sein.
»Zum Lernen«, sagte er unsicher.
»Ach so, natürlich. Ja, gehen wir hoch.« Rose ließ ihn vorausgehen und folgte ihm in sein Zimmer. Sie sah sich kurz um und sagte: »Nett hier«, doch es war eine Floskel. Sie war absolut desinteressiert. Es verunsicherte Johnny. Sie hatte IHN doch um einen Gefallen gebeten. Immerhin war sie hier.
Die nächste halbe Stunde versuchte er, ihr die Grundzüge der Chemie zu erläutern, doch er musste alles mehrmals wiederholen. Es schien, als würde Rose ihm überhaupt nicht zuhören. Schließlich unterbrach sie ihn. »Ich brauche unbedingt eine Eins am Ende des Jahres.«
Johnny schluckte. »Nun, das wird schwer sein. Aber vielleicht…«
»Nein, du hast nicht verstanden«, sagte sie, fügte aber nichts hinzu. Dann schlug sie das Buch zu. »Hör‘ mal, Johnny. Im Grunde bin ich nicht wegen Chemie hier.«
Johnny schlug das Herz bis zum Hals. Seine Stimme klang fremd in seinen Ohren. »Weswegen dann?«
Sie lächelte ihn nachsichtig an. »Wegen dir, Johnny. Aber was habe ich schon für Chancen? Du musst doch massenhaft Mädchen haben. Deine Freunde bewundern dich ja geradezu.«
Johnny starrte sie entgeistert an. Sogar sie war auf dieses Possenspiel hereingefallen? Er biss sich kurz auf die Lippe und überlegte, was er antworten sollte. Die Machonummer würde sie ihm niemals abkaufen, und falls doch, so würde sie Reißaus nehmen. Wer wollte schon einen Playboy, der mit seinen Eroberungen prahlte? Er sah ihr in die runden, großen Augen, die ihr etwas Kindliches gaben. Dann brach es aus ihm heraus: »Aber das denken doch nur alle. Die Leute glauben, was sie glauben wollen. Hätte einer nachgefragt, wäre mein ganzes Lügengerüst zusammengebrochen. Aber sie fragen nie. Sie glauben es einfach.«
Nachdem er es losgeworden war, spürte Johnny, wie ein Gewicht von ihm abfiel. Sicher, er genoss die Anerkennung, die ihm zuteilwurde, doch mit jeder Geschichte, jeder Lüge schien er ein Stück von sich selbst zu verlieren. Er konnte niemandem erzählen, was er wirklich dachte, wie sehnlich er sich eine Freundin wünschte und dass er im Grunde nur nicht mehr allein sein wollte. Johnny Kruger, der Frauenheld, war ein einziges Konstrukt, und es gab keinen Weg zurück.
Rose legte den Kopf schief und berührte ihn sanft an der Schulter. »Johnny, das hast du doch nicht nötig. Du musst keine Geschichten erfinden. Du könntest sie selbst erleben. Trau dich einfach! Was hast du deinen Freunden denn erzählt?«
Johnny zögerte und starrte zu Boden. Er hatte Rose schon viel zu viel offenbart. Im Grunde kannten sie sich doch kaum.
»Johnny.« Er hob den Blick und versank sofort in Rose’ Augen. Sie waren außergewöhnlich und wirkten doch, als habe er schon hundertmal in sie geblickt. Er fühlte, wie seine Hände feucht wurden. Alles, was existierte, waren Rose‘ Augen. Und ihre herrlichen Lippen, die nun näherkamen. Beinahe wurde ihm schwarz vor Augen. War das, was gerade geschah, real? Würde er gleich aufwachen? Als ihre Lippen sich auf seine legten, war ihm klar, dass es real sein musste. So schön konnte kein Traum sein. Er spürte ein schmerzhaftes Ziehen in seiner Brust. Dieser Moment, so kurz er auch dauerte, war der schönste seines Lebens – das wusste er. Sein Herz flatterte nervös wie die Flügel eines Schmetterlings.
Als er die Augen wieder öffnete, sah er Rose lächeln. Sie sah wunderschön aus. Er wollte mit ihr Kinder bekommen, wollte sie lieben, bis sein Herz aufhörte zu schlagen. Noch nie hatte er so etwas Starkes empfunden. Sie hatte ihn geküsst. Johnny konnte sich nicht beruhigen. Sein Puls war auf 180.
»Glaubst du mir jetzt, dass du mir vertrauen kannst?«
Seine Kehle war trocken. Er konnte nur nicken. Er würde ihr