Während sie aufstand und sich das Haar kämmte, erinnerte sie sich an das Gesicht des Mannes, als sie ihm vor der Haustür einen schulbuchmäßigen Korb gegeben hatte. Wie er mit sich gerungen hatte, unsicher zu fragen, ob sie ihn mit reinnehmen würde. Rose fragte niemals einen Mann, ob er mit zu ihr kommen wollte. Sie mochte es nicht, morgens ein fremdes Gesicht neben sich zu sehen. Es gab ihr ein Gefühl der Beklemmung, der erzwungenen Vertrautheit.
Schon beim Essen mit dem Banker hatte sie diese nur allzu bekannten Blicke gesehen, in denen so vieles zu lesen war. Da waren Fragen von »Kriege ich sie heute noch ins Bett?« bis zu »Wie werden unsere Kinder aussehen?« und ein verräterisches Glitzern in den Augen, als würde er ein kostbares Juwel betrachten – mit der festen Absicht, es zu besitzen. Es langweilte Rose. Und doch hatte sie das Essen abgesessen wie eine langatmige Vorlesung an der Universität. Man wusste nie, wozu es gut sein würde. Er war der typische Modelscout: wohlhabend, geschieden und händeringend auf der Suche nach einer schönen Trophäe, die mindestens 20 Jahre jünger war als er.
Wie traurig er ausgesehen hatte, als die Tür vor seiner Nase zugefallen war. Er hatte es mit den üblichen Phrasen versucht: »Ich kann dich ganz groß rausbringen« und »Einige Leute schulden mir einen Gefallen«. Er war sich so sicher gewesen, sie am Ende des Abends flachzulegen, dass er nach ihrer Absage fassungslos vor dem Haus gestanden hatte. Rose liebte diese Momente. Sie zeigten ihr, wie viel Macht sie besaß.
Rose sah auf die Uhr, die auf ihrem Nachttisch stand. 9.24 Uhr. Sie würde zu spät zu ihrem Casting-Termin kommen, doch das spielte keine Rolle. Den Job hatte sie trotzdem sicher. Sie warf noch einmal einen Blick auf ihr Mobiltelefon und hörte die Nachrichten ab.
»Rose, der Abend gestern hat mir außerordentlich gut gefallen. Ruf‘ mich doch an, dann können wir uns nochmal treffen. Du bist ja ziemlich schwer zu erreichen, ich habe schon ein paar Mal angerufen. Na ja, äh…ruf‘ mich an. Oh, hier ist Billy. Ruf‘ mich an! Billy Porter, von gestern.« Die letzten Worte hatte er nach einigem Zögern hinzugefügt.
Rose musste auflachen. Er schien gar nicht so dumm zu sein, wenn er davon ausging, dass sie seinen Namen nicht mehr wusste. Sie löschte die Nachricht. Die restlichen Mitteilungen stammten von einem Barkeeper, mit dem sie einmal vor Monaten geschlafen hatte, und ihrer Schwester Josie.
Ihre Stimme klang wie immer leicht unterkühlt, aber diesmal wähnte Rose noch einen Hauch von Panik darin. Es war ungewöhnlich. Tatsächlich hatte Rose sie selten in ihrem Leben so aufgeregt erlebt. Sie war ein unauffälliger, ruhiger Mensch. »Rose, ich bin’s, Josie. Hör‘ mal, du weißt, ich würde dich nicht anrufen, wenn es nicht nötig wäre. Mum geht es überhaupt nicht gut. Sie ist wieder krank, und die Ärzte wissen nicht, was sie tun sollen.« Ihre Stimme brach kurz ab. Rose fragte sich, ob sie ein Schluchzen unterdrückte. »Und Dad dreht hier langsam durch. Ich habe Angst, dass er…Rose, bitte, komm‘ her! Ich brauche deine Hilfe. Ruf‘ mich an!«
Rose ließ nachdenklich ihr Telefon sinken. Ihre Mutter war in den vergangenen fünf Jahren ständig krank gewesen, doch die Ärzte hatten keine Ursache gefunden. Einmal ging es ihr so schlecht, dass sie sieben Kilogramm binnen zwei Wochen verlor. Was ihren Vater anging, so war es Rose schnuppe, ob er durchdrehte. Sie hatte seit Jahren nicht mehr mit ihm gesprochen.
Rose überlegte, den Casting-Termin abzusagen und ins 50 Kilometer entfernte Crumbville, ihre Heimatstadt, zu fahren. Josie hatte so verzweifelt geklungen. Rose‘ Blick fiel auf den Spiegel, der in ihrem Schlafzimmer hing. Mit den Fingern strich sie die Stirnfalten glatt und zwang sich zu einem entspannten Gesichtsausdruck. Sie musste sich auf den Job konzentrieren.
Die Uhr zeigte inzwischen 9.40 Uhr. Rose ordnete noch einmal ihr Haar, spitzte die Lippen und schlug die Augen nieder. Das reichte als Vorbereitung. Das Casting würde großartig werden. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. 23 Jahre alt, und Rose konnte sich schon jetzt kaum retten vor Geld. Das Leben war einfach wundervoll.
Mit geschmeidigen Bewegungen streifte sie ihr Nachthemd ab und warf das Handy achtlos auf das Bett. Im Bad drehte sie den Duschhahn auf »kalt« und stellte sich mit geschlossenen Augen unter den harten Strahl. Rose hatte gelesen, dass sich dadurch das Bindegewebe festigte, und je straffer ihr Körper war, desto mehr Männer würden ihr zu Füßen liegen. Sie musste grinsen.
Als sie eine Stunde später zu dem Termin aufbrach – eine halbe Stunde zu spät – fühlte sie sich leicht wie eine Feder und bereit, sich den Job zu schnappen. Als die Haustür ins Schloss fiel, hatte Rose Josie und ihre restliche Familie bereits vergessen.
Kapitel 2 – Damals – Gabe
Als Rose fünf Jahre alt war, merkte sie zum ersten Mal, dass sie schön war. Es war die Art, wie die Leute sie auf der Straße ansahen – ehrfurchtsvoll, bewundernd. Sie erinnerte sich daran, wie sie mit ihrer Mutter durch die Stadt spazierte und von Blicken verfolgt wurde. Es fühlte sich merkwürdig an. Sie strich ihr Sommerkleid glatt und suchte nach einem Fleck, doch sie konnte nichts Außergewöhnliches finden. »Mum, warum starren mich die Leute so an?«, fragte sie.
Ihre Mutter, zu dieser Zeit noch kerngesund, hatte ihr ein Lächeln geschenkt. »Rose, du bist schön. Du bist ein wunderschönes kleines Mädchen.«
Das war der Grund? Nur zwei Tage nach dem Gespräch mit der Mutter war Rose klar, dass diese Recht haben musste. Ein Mann sprach sie eines Morgens vor dem Supermarkt an. Rose verstand nicht viel von dem, was er sagte – nur, dass er Fotos von ihr machen und sie dafür bezahlen wollte. »Dieser Mann ist auf der Suche nach schönen Menschen, und er hat dich ausgewählt. Es ist eine unglaubliche Ehre«, erklärte ihr die Mutter.
Rose war verdutzt. Warum sollte jemand dafür bezahlen, Fotos mit ihr zu machen? Sie war doch bereits auf vielen Bildern – im Urlaub oder bei ihrem Kindergeburtstag. Wieso konnte man die nicht dem Mann geben? Ihre Mutter erwiderte darauf nichts, sondern lachte nur. Und Rose erkannte, dass sie eine Gabe haben musste.
Zu Hause erzählte sie es sofort ihrem Vater. Der runzelte nur die Stirn, wie er es immer tat, wenn er mit etwas nicht einverstanden war. »Geh' schon mal in dein Zimmer, Schatz. Ich komme gleich«, sagte er, an seine Tochter gewandt.
Rose tat, wie ihr geheißen, hörte den Streit der Eltern aber trotzdem. »Sei doch vernünftig, Paul, Rose kann uns helfen. Das gibt eine Menge Geld«, argumentierte die Mutter. Rose wusste, dass ihre Eltern Geldprobleme hatten. Die Tatsache, dass sie der Familie vielleicht helfen konnte, machte sie stolz.
»Ich halte überhaupt nichts davon, Alice. Du nutzt unsere Tochter nur für deine Zwecke aus. Es geht dir doch gar nicht um das Geld. Du willst mit ihr angeben.« Es wurde immer besser. Ihre Eltern wollten mit ihr angeben, weil sie so unglaublich stolz auf ihre Tochter waren. Rose spürte, wie ihr Herz schneller klopfte.
»Vielleicht, ja. Aber schließlich ist es deine Schuld, dass ich nichts vorzuweisen habe. Ich will nicht, dass Rose denselben Fehler macht wie ich damals.«
Einen Moment lang herrschte Stille. Dann hörte man den Vater sagen: »Ein Fehler? Ich wusste immer, dass du es so siehst, aber es ist das erste Mal, dass du es offen aussprichst. Herzlichen Glückwunsch. Aber du hast deine eigenen Bedürfnisse ja immer über die der Familie gestellt.«
»Du undankbarer Versager«, schrie Alice Carter. Rose zuckte vor der Tür zurück. So hatten ihre Eltern noch nie miteinander gesprochen. Schimpfworte waren nicht erlaubt. »Du hast mir alles genommen, was ich hatte. Ich war eine wundervolle Frau – beliebt, berühmt, begehrt. Du hast aus mir ein Nichts gemacht.«
»Du hast eine Tochter, die dich liebt. Reicht dir das nicht? Willst du wirklich dein altes Leben zurück? Tagelang zugedröhnt mit Männern im Bett, deren Namen du nicht mal kennst, und bei windigen Modelscouts Nacktaufnahmen machen? Ja, das war ein tolles Leben.« Ihr Vater lachte freudlos auf. Rose verstand nicht, wovon er sprach, doch sein Tonfall war verbittert, traurig.
»In der Zeit war ich wenigstens glücklich. Jetzt lebe ich in einer hässlichen Vorstadt mit einem langweiligen Ehemann, einem lahmen Bürojob, und das Einzige, was ich vorzuweisen habe, ist eine