Als Daik ta Enderos die Plattform betrat, konnte er den wachhabenden
Schwertmännern und Bulldemut nur ein knappes Nicken schenken. Keuchend
rang er nach Atem, und die Luft war eisig und brannte in seiner Kehle. Der
Pferdefürst stand an der Brüstung, zwischen zwei der ungewohnt geformten
Zinnen, und winkte seinen Gast zu sich heran. Der umrundete den
Lampenspiegel, der das alte Signalfeuer ersetzte, und hüllte sich enger in den
Umhang, der ihn nur unvollkommen gegen die schneidende Kälte des Windes
schützte.
»Ihr kommt gerade noch rechtzeitig, um es zu sehen«, brummte der
Pferdefürst.
»Um was zu sehen?« Ta Enderos lächelte schwach. »Wollt Ihr mir die
Schönheit des Sonnenaufgangs zeigen?«
»Glaubt Ihr, dafür hätte ich mich hier heraufgequält? Schaut nach Osten, ta
Enderos. Was seht Ihr?«
Hinter der Frage des Pferdefürsten steckte eine besondere Absicht, aber der
Alnoer wusste nicht, welche. »Nun, ich sehe im Südosten die Schwarzen
Berge von Uma’Roll und im Nordosten das Gebirge von Noren-Brak. Und
direkt vor unseren Nasen liegt der Pass, der die Gebirge teilt.«
»Der Pass von Merdoret, genau«, stimmte Bulldemut zu. »Und davor die
Weißen Sümpfe. Nun, ich vermute, es fällt Euch nicht auf, da Ihr die Sümpfe
noch nicht kennt.«
»Ich habe sie noch nie gesehen und kenne nur die alten Legenden. Dass
dort einst eine furchtbare Schlacht tobte und der Sumpf die Toten
verschlungen hat.«
Bulldemut nickte bedächtig. »Nicht wie ein gewöhnlicher Sumpf, ta
Enderos. Die Weißen Sümpfe sind verflucht. Sie nehmen die Toten nicht auf
und geben sie auch nicht frei. Die Kämpfer liegen noch immer dort, wo sie
gefallen sind. Menschen, Elfen und Orks. Was in das verfluchte Wasser
taucht, kann nicht zerfallen, doch was aus ihm emporragt, hat sich aufgelöst.
Es ist ein entsetzlicher Anblick, Alnoer. Ein einziges Mal habe ich es mit
eigenen Augen gesehen, und Ihr könnt mir glauben, dass ich es nicht auf ein
zweites Mal anlege.«
»Und was sollte mir nun auffallen, Hoher Lord Bulldemut?«
»Seht hinunter.« Bulldemut deutete in Richtung der verwunschenen
Sumpflandschaft. »Sie sind zugefroren, die Sümpfe. Zum ersten Mal, seit wir
Pferdelords in diese Mark kamen. Ich weiß nicht, woran das liegt. Wir hatten
schon kalte und unbarmherzige Winter, und dennoch waren sie nie von Eis
bedeckt. Doch in diesem Jahr ist es anders. Dabei hat der Winter noch nicht
einmal begonnen. Es ist mir ein Rätsel, ta Enderos, ein wahres Rätsel.«
»Zugefroren«, murmelte der Gardekommandeur und stützte sich auf eine
der Zinnen. Hastig zog er die Hände zurück, denn der Stein war
außergewöhnlich kalt. Während er seine Hände aneinanderrieb, überlegte er
fieberhaft. »Ich verstehe. Sie sind passierbar, nicht wahr? Das Eis würde
Männer mit Waffen tragen können.«
»Wir treiben ein paar schwere Hornviehbullen in die Sümpfe«, brummte
Bulldemut. »Dann werden wir es erfahren.« Er seufzte. »Wahrscheinlich
tauen sie rasch wieder auf. Bedenkt, es ist noch nicht richtig Winter.«
»Eben.« Ta Enderos lächelte. »Doch wenn sie im Winter zugefroren
bleiben, dann hätten wir einen Weg ins Reich der Finsternis. Einen Weg nach
Cantarim, nicht wahr, Pferdefürst Bulldemut?«
Kapitel 5
Showaa war unbestreitbar jung und auf jene Art verspielt, wie es für die
Lederschwingen typisch war. Schwingenführer Mordeschdar hatte Anschudar
darauf vorbereitet und ihm geraten, Showaa ihren Willen zu lassen, solange
dies die Mission nicht gefährdete. »Sie wird sich austoben wollen,
Anschudar«, hatte Mordeschdar gesagt. »Lass sie gewähren. Wenn sie ihrem
natürlichen Trieb nicht folgen kann, wird sie übellaunig, und du weißt ja, wie
störrisch eine Lederschwinge werden kann. Nimm sie nur an den Lenkstab,
wenn es nicht anders geht. Und halte immer die Augen auf. Showaa hat gute
Anlagen, aber ihr fehlt es an Erfahrung. Lass dich also von ihr nicht ablenken,
und achte auf alles, was um dich herum geschieht. Doch das Wichtigste ist,
dass ihr Gelbstein für den Horst findet. In dieser Hinsicht kannst du dich auf
Showaas Instinkte verlassen. Sie ist jung und gierig, denn sie muss noch
wachsen. Da wird sie auf das feinste Anzeichen von Gelbstein reagieren.«
Also ließ Anschudar seiner Showaa ihren Willen. Zumindest
weitestgehend. Die Lederschwinge genoss den langen Flug und versuchte
sich in den verschiedensten Flugmanövern. Für Anschudar war es nicht
besonders angenehm, wenn die junge Schwinge abrupt abtauchte, sich in
rasendem Sturzflug dem Boden näherte und sich dann nach einer Rolle
wieder hinauf in den Himmel schwang. Allmählich begann sein Magen auf
diese Bewegungen zu reagieren, und er war froh, zuvor nicht viel gegessen zu
haben, denn es wäre verschwendet gewesen.
Nach einer mehrfachen Seitenrolle hatte Anschudar genug und setzte nun
doch den Lenkstab ein. »Langsam, Showaa, langsam«, sang er in der
typischen Weise der Schwingenreiter. Der Befehl glich einer sanften Melodie,
doch das Volk der Lederschwingen reagierte instinktiv auf diese Lautfolgen.
Showaa mochte die Worte ihres menschlichen Reiters noch nicht ganz
verstehen, aber die Abfolge der Töne, mit denen sie ausgesungen wurden,
machte ihr sofort deutlich, was Anschudar von ihr erwartete. Die junge
Schwinge stieß ein missbilligendes Zischen aus, ging aber gehorsam in einen
langsamen Flug über, bei dem sich ihre riesigen dreieckigen Schwingen nur
träge bewegten.
Anschudar wartete, bis sich sein Magen beruhigt hatte, und strich seinem
Reittier