ZUGVOGEL. K. Uiberall-James. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: K. Uiberall-James
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783847619789
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andere Medikamente und kann schon wieder aufstehen und leichte Arbeiten verrichten. Dein Vater ist überglücklich. Amadou seufzt vor Erleichterung. Miriam fährt fort: Sie sagen, dass das Geld noch eine Weile reicht. Hast du inzwischen auch eine Arbeit gefunden?

      ‚Nein, hab’ ich nicht.’ Das linierte Blatt Papier mit der akkuraten Schrift zittert unmerklich in Amadous Hand. Wut und Ohnmacht spiegeln sich in seinem Gesicht. ‚Mit welchem Recht fängt sie nun auch noch an, mich zu nerven?’ Schließlich hat er mit dem Kreditgeber vereinbart, dass er erst mit der Rückzahlung des Kredites beginnen muss, wenn er Arbeit hat und Geld verdient. Den Zusatz … aber spätestens nach drei Monaten, hat er total verdrängt. Jetzt flutet dieser Satz die Oberfläche seines Bewusstseins wie Wasser die ausgedörrten Wadi zur Regenzeit. Von einer Sekunde zur anderen ist die Zeit ein reißender Strom, unkontrollierbar. „Ach verdammt!“, schnauzt er und verscheucht die trüben Gedanken mit einer Handbewegung, bevor er weiter liest.

      Hier hat sich sonst nichts verändert. Wir alle vermissen euch und hoffen, dass ihr schnell viel Geld verdient, damit ihr nicht so lange fortbleibt. Ach ja, bevor ich es vergesse Amadou, kannst du mir solch ein weißes Kleid, wie die Frauen es in Europa zur Hochzeit tragen, mitbringen? Ich wünsche es mir so sehr!

      Bis bald, deine Miriam.

      Natürlich ist Amadou froh, dass er sich im Moment nicht um seine Mutter zu sorgen braucht, aber so richtig freuen kann er sich auch nicht über diesen Brief. Er hat ihn schmerzhaft daran erinnert, dass er etwas tun muss, um Geld zu verdienen. ‚Na ja, morgen ist auch noch ein Tag’, denkt er und beschließt, am Wochenende alle Landsleute zu fragen, wie er Arbeit finden kann, und wenn er dazu in die Disco mitgehen muss, um sie zu treffen.

       Im ‚Baobab‘, da, wo alles möglich ist

      Samstagnacht, weit nach Mitternacht, geht es in der Stammdiskothek der Afrikaner hoch her. Malik, Toucou und seine Gäste amüsieren sich ausgelassen mit ihren Landsleuten und darüber hinaus mit allen anwesenden Frauen, sofern sie keinen festen Partner zu haben scheinen. Auf der Tanzfläche herrscht eine Luftfeuchtigkeit wie in den Tropen. An den zwei Säulen, die die Tanzfläche von der Bar trennen, schlägt sich die Feuchtigkeit als Kondenswasser nieder und perlt langsam abwärts. Es ist eine der Nächte, wo alles stimmt, wo alle für eine kurze Zeit einfach nur glücklich sind, bevor sie der deutsche Alltag wieder einholt.

      ‚Wer bin ich denn, dass ich da nicht mitmache?’, denkt Amadou und läuft mit fliegenden Fahnen ins Lager des Entertainments über. Vergessen ist sein Vorsatz, alle Landsleute wegen eines Jobs anzusprechen. ‚Das wäre jetzt aber auch so was von unpassend’, beruhigt er sein Gewissen. Vorsichtshalber stellt er aber das Denken ganz ein; denn nur so kann sich sein Körper dem aufpeitschenden afrikanischen Rhythmus hingeben und seinen Emotionen freien Lauf lassen. Als er übermütig mit seinen Freunden tanzt, klatschen die Umstehenden und die Frauen werfen ihm anerkennende Blicke zu. Amadou reagiert nicht darauf. Er tanzt als versuche er, seine eingesperrte Seele aus dem Körper zu befreien, sich von seinem unbequemen Innenleben zu trennen.

      Auch Carla gehört seit der Abfuhr von Sekou zu Amadous heißen Bewunderinnen. Sie nervt Ibrahim so lange, bis der seinen Freund zur Seite nimmt und ihm mit einem Augenzwinkern Carla vorstellt, damit sie endlich Ruhe gibt.

      Amadou will gerade sein Desinteresse kundtun, als er Emily entdeckt; sie muss eben gekommen sein, denn sie hat noch ganz rote verfrorene Wangen von der Kälte draußen.

      Geistesgegenwärtig schnappt er sich Carla und zieht sie auf die Tanzfläche. ‚Sie soll ruhig sehen, dass ich jede Frau hier haben kann’, sagt er sich und vollführt halsbrecherische Tanzschritte mit Carla. Die weiß gar nicht, wie ihr geschieht, versucht aber so gut es eben geht, seine gefühlslose Akrobatik mitzumachen. Zum Dank dafür nimmt er sie nicht einmal wahr. Irgendwann reicht es ihr.

      „Such dir jemand Anders um dich abzureagieren!“, faucht sie ihn an und lässt ihn mitten auf der Tanzfläche stehen. Sekou hat die Szene beobachtet und grinst anerkennend.

      „Okay“, meint Amadou cool und tanzt alleine weiter, aber nicht lange. Schon drängen sich die weiblichen Singles in seine Nähe, bewegen sich aufreizend und wie zufällig immer mehr in seine Richtung, bis er eine von den jungen Frauen, die direkt vor seiner Nase tanzen, akzeptiert und einfach mit ihr weitermacht. Als das Musikstück zu Ende ist, verschwindet er wortlos in der Menge, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. ‚Ich habe sie mir nicht ausgesucht, also muss ich auch nicht höflich sein’.

      Im Gedränge vor der Bar erkämpft er sich einen Platz in Emilys Nähe, ohne sie anzuschauen. „Hey Amadou“, spricht sie ihn vorsichtig von der Seite an.

      „Oh, hallo“, tut er erstaunt, „ich dich nicht sehe.“.

      „Ach ja?“ Emily lächelt nachsichtig; sie verzeiht ihm diese Macholüge. Er hat sich wohl nicht getraut, sie zuerst anzusprechen; kein Wunder nach ihrem misslungenen Date.

      „Wie geht es dir?“

      „Oh, ich okay“, antwortet Amadou betont locker, und fügt dann eilig etwas enthusiastischer hinzu: „Du tanzen?“ Emily nickt, steigt wortlos vom Barhocker und ergreift ein wenig zittrig die ihr dargebotene Hand. Ihre Gefühle fahren Achterbahn mit ihr; diesmal will sie nicht wieder alles verpatzen, indem sie es zerredet, da ist es schon besser, zu tanzen. Amadou dagegen fehlen im wahrsten Sinne des Wortes die Worte.

      Auf der Tanzfläche schließt er Emily überglücklich und sehr zart in die Arme. Als sie sich nicht wehrt, sondern sich sogar an ihn schmiegt, muss Amadou sich räuspern, weil ihm ein lautloses Schluchzen in der Kehle die Luft abschnürt und sein Herz unregelmäßig und hart gegen seine Rippen zu schlagen beginnt. Emily fühlt es durch alle Stoffe. ‚Was für ein Wahnsinnsgefühl. Was bedeuten dagegen schon Worte?’, denkt sie berauscht und schließt die Augen. ‚Das hier ist echt.’

      Amadou spürt ihre Hingabe. Fast trunken vor Erleichterung und Glück senkt er seine Nase in ihr wohlriechendes Haar und stöhnt leise. Um sie herum tost die Musik, doch sie schweben eng umschlungen in ihrem eigenen Universum, folgen wie in Trance ihrem eigenen Stern. Keiner der abfälligen, amüsierten oder neidischen Blicke der Anderen erreicht ihre Umlaufbahn. Stundenlang, bis plötzlich Ibrahim mit Winterjacke und Schal vor ihnen steht.

      „Amadou, wir fahren jetzt nach Hause“.

      „Was? Wieso …?“ Er blickt verwirrt in die Runde und löst sich widerstrebend von Emily. Niemand außer ihnen ist noch auf der Tanzfläche. Der DJ packt schon seine CDs ein und der Barkeeper kontrolliert bereits den Getränkebestand und rechnet ab. Im Hintergrund warten Sekou, Malik und Toucou mit einem ungeduldigen Apollinaire, der sie heute freundlicherweise nach Hause bringen will, der aber seiner Frau versprochen hat, nicht wieder so spät zu kommen; ein erpresstes Versprechen, das nur mal so nebenbei, welches sich absolut nicht mit seiner Kultur vereinbaren lässt.

      „Es ist schon halb sechs, wir sind müde.“ Energisch holt Sekou Amadous Jacke und Schal aus der Garderobe; Apollinaire gesellt sich mit einem Damenmantel über dem Arm zu der Gruppe und sagt grinsend zu Emily: „Das ist der einzige Damenmantel, der noch da war.“ Bei der Gelegenheit stellt Amadou seinen Freunden, ein wenig verlegen, Emily vor. „Das haben wir uns schon gedacht“, witzeln sie und lächeln sie freundlich an.

      Auf dem Parkplatz versuchen alle, sich in Apollinaires Auto zu quetschen, was sich aber als schwierig erweist. Emily soll auf Amadous Schoss sitzen, doch das will Apollinaire nicht.

      „Wenn die Polizei mich kontrolliert, bin ich dran. Ich darf nur fünf Personen befördern“, lamentiert er.

      „Wir sind doch nur fünf“, feixt Toucou. Apollinaire wendet sich genervt ab, ‚der denkt immer noch, dass er in Afrika ist.’

      Emily löst das Problem, indem sie sich für den Bus entscheidet. „Das mache ich sonst auch immer nach der Disco, und die Haltestelle ist gleich da drüben“, sagt sie munter und deutet mit dem Zeigefinger auf die andere Straßenseite.

      Apollinaire ist erleichtert und Amadou ist enttäuscht. In dem Moment naht auch schon ein Bus und Emily rennt über die Straße. Als der Bus die