„Oh Amadou, du nervst!“, versucht Ibrahim das Thema zu beenden.
„Aber es stimmt doch. Malik hat es gerade bestätigt.“
„Also“, hebt Malik bedächtig an und holt tief Luft, „um das ein für alle Mal zu beantworten: Es gibt genug Frauen, Junge und Alte, die so etwas machen; aber passt auf! Es gibt auch andere, die das nie tun würden. Ende der Durchsage.“
Etwas kleinlaut richtet Amadou nun seine Frage an den gutmütigen Sekou. „Und wie war es sonst gestern Abend?“
„Was willst du denn hören? Die Musik war gut, die Stimmung auch, wir haben mit deutschen Frauen getanzt und ein paar nette Landsleute getroffen. Nächstes Mal kommst du ja mit und kannst dir selber eine Meinung bilden.“
Ibrahim verzieht amüsiert die Mundwinkel. „Warum erzählst du ihm nicht von der anhänglichen Carla, Sekou?“
„Ach, lasst mich doch zufrieden.“
Malik legt eine afrikanische Musikkassette in den Rekorder und mimt gute Laune, indem er tanzend das Frühstücksgeschirr abräumt und singend in der Küche verschwindet. „Wer wäscht ab?“, fragt er über die Schulter und Ibrahim geht ihm nach.
„Wir müssen unbedingt ein paar Sachen waschen“, meint Sekou, „kannst du uns deine Waschmaschine erklären?“
Während Ibrahim abwäscht, Malik und Sekou mit der Wäsche aller Bewohner beschäftigt sind, darf Amadou sich wieder hinlegen. Er schließt die Augen und lauscht den heimatlichen Klängen aus dem Rekorder. Im Dämmerzustand gleitet er, vom Fieber des Vortages noch geschwächt, in eine seltsame Welt.
Erstaunt stellt er fest, dass die ganze Wohnung mit feinem, rostrotem Sandstaub überzogen ist. ‚Komisch, ich habe gar nicht gewusst, dass es hier auch rote Erde gibt.’ Neugierig schaut er aus dem Fenster. ‚Vielleicht träume ich ja und bin zu Hause?’ Aber die staubbedeckte Fensterbank des Hochhauses sieht so gar nicht afrikanisch aus. Sehnsüchtig schreibt sein Zeigefinger den Namen seiner Liebsten in den roten Staub. ‚Miria…’. Doch bevor er den Namenszug vollenden kann, reißt ihn eine zornige Windböe aus seinen nostalgischen Gedanken, verwischt die Buchstaben und treibt ihm die Körnchen seines Verrats in die Augen. Abwehrend hält er einen Arm vor das Gesicht und greift mit dem anderen halb blind in ein Vakuum. Er findet keinen Halt und stürzt ins Bodenlose. ‚Ich muss aufwachen’, denkt er panisch, ‚das ist viel zu schnell.’ Seine Arme rudern orientierungslos im Fallwind. Er versucht zu schreien, doch kein Ton verlässt seine Lippen. Eine herbstliche Landschaft saust im Zeitraffer an ihm vorbei. Er schaut genauer hin und stellt entsetzt fest, dass seine ganze Umgebung langsam ausblutet. Alle Farben verlassen unaufhaltsam in dünnen Rinnsalen ihren Platz und bilden schillernde Pfützen auf dem Boden. Zurück bleibt eine tote, grau-schwarze Landschaft mit Bäumen, deren Äste beschwörend in den Himmel ragen wie in einem düsteren, alten Schwarz-Weiß-Film. Amadou fröstelt und schaut an sich herunter. ‚Meine Hose, mein bunter Boubou, meine Haut, alles grau!’
„Amadou, wach’ auf“, Ibrahim rüttelt ihn sanft an der Schulter, „du hast nur schlecht geträumt.“ Besorgt schaut er in das schweißbedeckte Gesicht seines Freundes, der sich nur schwer von seinem Traum lösen kann und wie ein Besessener immer wieder die Haut auf seinem Arm anfühlt.
„Ist ja gut, ich bin wach“, brummt er und wehrt Ibrahims beschützenden Arm ab. Aber dann sagt er mit belegter Stimme: „Oh Mann, bin ich froh, dass ihr da seid.“
Malik kündigt an, dass er Freunde am anderen Ende der Stadt besuchen will, und fragt seine Gäste, ob sie mitkommen möchten. Mit einem heimlichen Blick auf Amadou schüttelt Ibrahim den Kopf. Sekou ist auch dafür, dem kranken Freund ein wenig Gesellschaft zu leisten, nachdem sie ihn schon den ganzen vorherigen Abend allein gelassen hatten. „Okay, aber dann kocht nur für euch; denn ich esse dort.“
Austausch der ersten Eindrücke
Als Malik weg ist, zappen die drei Freunde durch alle Kanäle und finden nichts, was sie interessiert, bis sie auf ARTE eine Sendung über Pygmäen entdecken. Im stillen Einvernehmen bleiben sie auf dem Kanal und verfolgen interessiert die Sendung.
Die Pygmäen demonstrieren gerade, wie sie ihre Hütten bauen, als Ibrahim nachdenklich sagt: „Ich habe mir immer gewünscht, in einem wetterfesten Steinhaus zu leben, mit elektrischem Licht und Anschlüssen für Kühlschrank, Fernseher und so. Die Hütten machen so viel Arbeit; ständig muss an ihnen etwas ausgebessert oder erneuert werden, also, ein Haus mit richtigen Glasfenstern, wo ich selbst bei schlechtem Wetter noch nach draußen schauen kann. Aber dass es so sein würde …“. Resigniert winkt er ab.
„Ich weiß, was du sagen willst“, sagt Sekou sanft, „mein Onkel hat ja ein Steinhaus, aber ich habe mir das Leben in modernen Häusern auch anders vorgestellt. Ich dachte, dass hier alles einfacher wäre und man mehr Zeit haben würde für die schönen Dinge des Lebens. Schließlich gibt es für fast jede Arbeit eine Maschine. Dadurch gewinnen die Menschen doch eine Menge Zeit, und was machen sie damit?“
„Sie nutzen die Zeit, um noch mehr zu arbeiten oder um fernzusehen“, antwortet Ibrahim sarkastisch.
„Ja, das stimmt“, mischt sich nun auch Amadou ein, „alle reden immer nur von dem Stress, den sie haben. Dieses Wort kannte ich vorher gar nicht. Und es nervt, dass die Leute meistens nur am Wochenende Zeit füreinander haben. Das ist doch kein Leben. Man lebt doch nicht nur am Wochenende.“
Ibrahim und Sekou lachen. „Das ist uns auch schon aufgefallen; da sind wir ja mal einer Meinung.“
Amadou freut sich über die Zustimmung seiner Freunde und möchte sie noch einmal zum Lachen bringen. „Also, das wäre so, als würde man einen eingesperrten Löwen nur am Wochenende in die Savanne lassen … Ich als Löwe würde nicht wieder zurückgehen.“
Ibrahim und Sekou grinsen breit und klopfen ihrem Freund beruhigend auf die Schulter. „Wir wissen ja, dass unser Löwenbaby die Savanne vermisst.“ Dann wenden sie sich wieder der Dokumentation im Fernsehen zu.
Aber Amadou ist nicht mehr zu bremsen. „Die Stille macht mich ganz kirre“, murmelt er. Seine Freunde nicken, als wüssten sie, wovon er spricht, und so fährt er fort: „Ich kann nachts manchmal nicht einschlafen, weil mir das Zirpen der Grille, das Scharren der schlafenden Hühner, das Schnalzen der Geckos, ja sogar das Schnarchen meines Vaters, oder das Rascheln der Mäuse fehlen. Ohne dieses nächtliche Spektakel weiß ich nicht, wo ich bin, ich verliere die Orientierung.“
„Tja, zu Hause, da sind immer irgendwelche Geräusche und man ist nie allein“, seufzt Sekou nostalgisch.
„Ach hört doch auf zu jammern; natürlich ist es zu Hause anders, dort spielt sich ja auch fast das ganze Leben draußen ab“, antwortet Ibrahim resolut, denkt dabei aber sehnsüchtig an den Hof seiner Familie.
Sekou versucht, Verständnis zu zeigen. „Na ja, wenn es hier immer so kalt ist, wundert es mich nicht, dass die Menschen sich in ihren Wohnungen verkriechen und alles drinnen machen.“ Und nach einer kleinen Pause fügt er tröstend hinzu: „Wir werden uns schon daran gewöhnen.“ In Wahrheit glaubt er aber selber nicht daran.
In Afrika brauchte er nur einen Schritt vor die Tür zu machen, um jeden Morgen das Wunder des Sonnenaufgangs zu erleben, oder, wenn er nachts mal raus musste, das Gefühl zu haben, er könnte die Sterne pflücken, so nah erschienen sie ihm. Und hier? An vielen Tagen sieht man überhaupt keine Sonne.
Nach einer Weile betretenen Schweigens sagt Ibrahim, ohne seine Freunde dabei anzusehen, mit brüchiger Stimme: „Mir fehlt selbst die sirrende, flimmernde Hitze des Feldes und die rote Erde.“
Bevor sie alle in Selbstmitleid zu versinken drohen, taucht gerade noch rechtzeitig ein munterer Toucou auf, der die Stimmung sofort richtig interpretiert. „Hey, Leute, heute ist Sonntag; da wird nicht Trübsal geblasen.“
„Ja genau, weil Sonntag ist“, mäkelt Amadou spöttisch. Darauf antwortet