Kapitel 3: Monica und eine neue Zukunft
Monica saß direkt eine Reihe hinter Rose und Aurora. Sie verfolgte aufmerksam den Unterricht. Sie war sehr wissbegierig und machte sich eifrig Notizen; nichts wollte sie verpassen. Ihre Eltern und sie waren gekommen, weil sie in Polen nicht mal ein Heute hatten. Sie lebten in einem Hochhaus mit Hühnern und Ziegen in der Wohnung, um wenigstens das Notwendigste zu essen zu haben. Es war feucht und Sauberkeit nur sehr schwer zu halten. Monica lief zwischen Hühnerdreck und Ziegengeruch von ihrem Bett zur Wohnküche. Dieser Gang jeden Morgen verlangte ihr alles ab. Sie wusch sich in der Küche, aß etwas trockenes Brot und half dann ihrer Mutter Natascha beim Aufspüren von Lebensmitteln in der Stadt. Die Slums waren unerträglich; sie liefen über vor Dreck und Gestank. Monicas Vater Ivan hatte keine Arbeit. Über eine Schlepperbande erhielten sie die Möglichkeit für eine Zukunft. Sie ließen sich über Lieferwagen nach London einschleusen. Ihr letztes Geld gaben sie weg, ihre letzte Habe verkauften sie. Und dann waren sie in London. Durch einen glücklichen Zufall kamen sie bei einer polnischen Familie unter, die auch die Arbeit in der Hemdenfabrik vermittelte. Als gläubige Christen dankten sie jeden Abend dem Herrn. Das Zimmer war klein, aber ein frischer Duft nach Zitrusfrüchten durchzog den Raum. Monica hatte ein eigenes Bett und freute sich jeden Tag über das fließende Wasser. Monica wollte alles tun für ihr Glück, für eine neue Zukunft für sich und ihre Familie. Also lernte sie den ganzen Tag, wenn sie nicht mit ihren neuen Freundinnen zusammen war. Sie war so bescheiden und dankbar, dass ihr niemand etwas antun konnte. In dieser Vertrautheit auf sich und die neuen Möglichkeiten wandelte sie durch ihr neues Leben, war offen und ehrlich. Ihre Stimme war weich und biegsam, wie sie. Oft sprach sie sehr leise. Diese Sanftheit wurde ihr als schüchtern ausgelegt, aber das war sie nicht. Nur zurückhaltend, auf sich bestimmt. Die Zukunft lag in ihrer Hand. Alles, was sie wollte, konnte sie erreichen. In Musik kam sie schnell weiter; die Lehrerin nahm sie im Chor auf. Dort wuchs ihre Stimme in den folgenden Jahren heran zu einer sanften Glockenstimme, die hell und rein war. Ihre Lippen waren voll und formten einen Kussmund. Monica verzagte nie in ihrem Glauben an sich und die Zukunft. Wenn sie hart lernen und arbeiten würde, stünde ihr alles offen. So war Monica geprägt von ihrer Armut, willensstark wie eine Löwin und trotzdem biegsam wie eine Feder. Launen waren ihr vollkommen fremd. Das Leben stand vor ihr, und sie ging darauf zu, ohne zu fragen, was passieren könnte, was schief gehen könnte.
Aurora mit ihrer östlichen Gelassenheit und der Innensicht der Dinge, Monica, die biegsame Kämpferin, und die katzenhafte Rose mit ihrer Intuition gaben eine Dreieinigkeit ab, die in ihrem Ganzen komplett und ausgewogen war.
Kapitel 4: Die einigen und innigen Schwestern
Sie waren ein Herz und eine Seele in den ganzen drei Schuljahren in London. Rose tat das sehr gut, ohne die beiden war sie noch nicht erfüllt, noch nicht in ihrem Ich. Langsam schritt sie voran. Von Malcom hatte sie lange nichts gehört. Wenn sie nicht Aurora und Monica hätte, wäre sie vor Sehnsucht sicher schon vergangen. Aber so gab es tägliche Geschichten vom Schulalltag, vom Lernen, vom Späße machen, von Roy, von ihren Eltern und von Ben, ihrem kleinen Bruder.
Benny nannte Susan ihren Sohn liebevoll. Er war ein unkompliziertes Kind, ruhte sehr in sich. Seine große Schwester verehrte er sehr. Nachmittags nahm ihn Rose oft mit, wenn sie mit Monica und Aurora unterwegs war. An einem schwülen, dunstigen Tag gingen sie zusammen zum Hunderennen. Das war immer sehr aufregend. Die stolzen Windhunde nahmen keine Notiz von den Menschen um sie herum. Nicht mal Frauchen und Herrchen waren für sie interessant. „Also seid still, es geht gleich los.“ Rose war bestimmend und dirigierte ihre Freundinnen und ihren Bruder durch die Massen. Es war ein ziemliches Durcheinander. Die Wetten waren noch nicht abgeschlossen, und ein älterer Herr rannte noch, seinen Tipp loszuwerden. Ben war an diesem Nachmittag sehr zappelig. Rose hatte ihre Mühe. Er wollte unbedingt noch zu den Wettschaltern; das ging nun nicht mehr. Die Hunde waren bereits in ihren Startboxen. Ein Schuss fiel, die Hunde katapultierten aus den Boxen, worauf die wilde Hatz begann. Monica war nicht sonderlich interessiert, sie fand es viel aufregender, den gut angezogenen Ladies mit ihren großen, bunten Hüten nachzusehen; die große und weite Welt. Aurora fieberte mit den Hunden, die sich elegant und kraftvoll in die Kurven legten. Ben sah nur nach den Wettschaltern. Rose war leicht genervt. Ist ja gut und schön, aber der kleine Bruder war doch heute leicht lästig. Er schmierte gerade seinen Hot Dog in der Gegend rum. Monica half aus „Ich geh schon mit ihm, dann kann Ben auch noch die Wettschalter ansehen, wir sind gleich wieder da - komm Benny.“ Und weg waren sie. Nach einer halben Stunde waren sie immer noch nicht da. Rose begann sich zu sorgen. Immer das Gleiche. Sie war aufgebracht; es war doch ihr Windhundenachmittag. Aurora und Rose begannen, die beiden zu suchen. Ein lautes Geschrei führte sie zu einer größeren Halle, in der allerlei angeboten wurde. Ben lag auf dem Boden. Rosa beobachtete, wie der ältere Herr von vorhin sich einen Weg zu ihm bahnte. „Ich bin Arzt, lasst mich durch“. Dann ging alles sehr schnell. Ben war weiß wie ein Laken und ganz still. Was war den passiert? Ein aufgeschichteter Berg von Bierfässern war umgekippt und direkt über Ben zusammengebrochen. Die Fässer waren schwer und eines der Fässer verlor auch noch Bier, so dass Ben über und über begossen war. Ben landete in der Klinik. Roses Eltern waren bereits unterwegs. Rose, die sich neben der Angst auch noch Vorwürfe machte, fühlte sich hundeelend. Die schönen Windhunde und die schicken Damen um sie herum sah sie nicht mehr. Nur der bierverschmierte, kleine Bruder, wie sie mit ihm durch die langen Gänge der Klinik rannten. Vorne weg Susan, vollkommen aufgelöst. Peter, ziemlich blass, schaute auf Rose, sagte aber nichts. Nach dem Check wurde eine Kopfverletzung festgestellt, die jedoch nicht ganz einfach war. Die nächsten Wochen waren für Rose besonders tragisch: neben der eigenen Vorwürfe verlor sie auch jegliche Zuwendung durch ihre Eltern. Sie waren beide so sehr mit Benny beschäftigt, dass sie es gar nicht merkten, wie sehr Rose litt.
Sie saß mit Monica und Aurora auf ihrem Bett. Es war still im Haus, die Zimmertüre stand einen Spalt offen, und so konnten sie das Rumpeln der Waschmaschine trotz der Entfernung wahrnehmen. Susan und Peter besuchten Ben in der Klinik. Die Mädchen kuschelten einander, und Monica begann leise zu singen. Ihre Stimme wurde immer besser, und so trug sie die leise Melodie weit weg von diesem Ort. Mit leichten Schwingen erhoben sie sich über die Stadt, so war das Rauschen des Meeres nicht mehr fern. Die Möwen kreischten ihr Lied von der Ferne und die Mädchen vergaßen für einen Augenblick ihre kleinen Sorgen, die doch für ihre Seelen so entscheidend waren. Die späte Nachmittagssonne leuchtete mit goldenen Strahlen in Roses Zimmer. Noch träumten sie alle ihren Traum. Jungenfreundschaften waren harmlos. Es läutete an der Tür. Okay, es war Sonntag, und sie waren alle drei in London. Alle drei hatten indische lange Kleider an, die ihre beginnende Weiblichkeit unterstrich. Aurora war in allen Orangetönen Indiens umhüllt. Und ihr schwarzes Haar fiel lang und lose über ihre schmalen Schultern. Monica hatte seit diesem Sommer einen kessen Kurzhaarschnitt, der ihre Entschlossenheit zeigte; ihr Sari war eine Mischung zwischen Purpurrot und Nachtblau. Roses Kombination zeigte ein lindgrünes Grundmuster mit maronenfarbigen Einstichen. Ihre Haare waren zu einem lockeren Nackenknoten gebunden. So tapste sie barfüßig an die Tür. Da stand Roy, hochaufgeschossen, lässig in Jeans und einem Safarihemd. Sie blinzelte ihn an. Etwas perplex, denn Roy war die letzten drei Schuljahre mit allen möglichen Mädchen befreundet gewesen, aber nicht mit Aurora und Monica und schon gar nicht mit Rose.
„Lässt du mich nun hinein oder was? Ich habe dir etwas mitgebracht.“ Selbstsicher war er ja schon immer, dachte Rose bei sich. „Was denn?“ „Zeig ich dir gleich.“ Sie bat ihn hinein. Sie saßen nun in Roses Zimmer und
glotzten Roy an. Rose machte sich insgeheim Hoffnungen. Roy, der sie sonst kaum beachtete, besuchte sie. Wie oft träumte sie von ihm. In der Schule scherzten sie miteinander, aber Rose hatte immer das Gefühl, er sah sie nicht wirklich an, eher wie ein kleines Mädchen. Rose gab sich dann schüchtern und versteckte ihr wahres, katzenhaftes Wesen damit umso mehr. So richtig konnte sie eben nicht aus sich heraus. Etwas hemmte sie immer. Entweder die anderen, denen sie ihre Gefühle nicht zeigen wollte, oder sie selbst, das brave Mädchen in ihr, das nicht wollte, das Rose erwachsen wurde, eingesperrt in einem goldenen Käfig. Okay, zurück zu Roy. Der Hauch von Selbstzufriedenheit und Gefühlskälte, der