Christine freute sich sichtlich, als sie das Licht einschaltete und die Worte „das ist mein Arbeitszimmer“ aussprach. Mir versetzte, was ich sah, einen Stich, und ich bereute fast, mitgekommen zu sein. Es war gut! Das Zimmer war schön renoviert, die Holzdielen abgezogen, die Möblierung sparsam, aber nicht so, dass man den Eindruck hatte, es fehle etwas. Mir wurde mit einem Schlag klar, wie unrecht ich damit hatte, die Tatsache, dass fast alle ihre Bücher noch bei mir standen, nur als Zögern ihrerseits zu interpretieren, vollständig und damit in gewisser Weise endgültig auszuziehen, was ja auch der Trennung noch einmal ein ganz anderes Gewicht verleihen würde. Dieses Zurücklassen der Bücher, das Sich-Beschränken auf das, was sie für ihre Arbeit brauchte, nämlich vor allem Wörterbücher und Lexika, konnte, ebenso wie der Verzicht auf viele andere Dinge, die noch bei mir herumstanden, auch als Abwerfen von Last verstanden werden, von Unnützem, Platzraubendem, einem den Weg und den Blick Verstellendem, und sei es auch nur den Blick auf eine weiße Wand, der das Auge und damit das Gehirn ja in viel geringerem Maß festlegt als der Blick auf Bücher und Möbel. Eine weiße Wand, das hat etwas Leichtes, der Phantasie Raum Lassendes und damit Möglichkeiten Eröffnendes – und haben Möglichkeiten nicht etwas mit Zukunft zu tun? Dieses Zimmer atmete beides, Möglichkeiten und Zukunft, es hatte etwas von einer Studentenbude auf hohem Niveau, dabei das Offene, Schlichte mit Geschmack und einem Sinn für Ausgewogenheit verbindend. Es erlaubte durchaus mehr, als es hatte, aber es brauchte nicht mehr. So gesehen spiegelte es wahrscheinlich perfekt die momentane Gefühlssituation Christines wider. Es machte mich traurig.
Sie lächelte mich an. „Gefällt es dir nicht?“
„Doch“, sagte ich. Ich ging zum Fenster, um ihr nicht weiter Gelegenheit zu geben, mich von der Seite anzuschauen. Man hatte Aussicht direkt auf den Chamissoplatz hinunter mit seinen hohen Bäumen und seiner Gründerzeitumbauung. Halb rechts, etwas im Hintergrund, markierten vier rote Signallämpchen die Spitze des Wasserturmes in der Fidicinstraße, und die rotierenden Scheinwerfer vom Tower des nahen Flughafens Tempelhof machten den Nachthimmel unruhig. Jetzt sah ich, dass hinter den Birken auf der Nordseite des Platzes und einem Streifen Büsche ein Kinderspielplatz lag mit Rutsche, Schaukeln, Buddelkasten und einem Abenteuerblockhaus. Ich hatte ihn nie bemerkt, wenn wir samstags manchmal hierher gekommen waren, um auf dem kleinen Biomarkt Fleisch aus ökologischer Tierhaltung zu kaufen, das man nur an wenigen Stellen in Berlin bekam. Von Schöneberg aus, wo wir wohnten, war es die nächste gewesen, und wir waren meistens hinterher noch zum zweiten Frühstück in eines der vielen Cafés in dieser Gegend gegangen. Es war immer schön gewesen, einer der wenigen Momente in der Woche, wo wir gemeinsam etwas unternahmen. Es hatte wohl nicht gereicht.
Ich überlegte flüchtig, ob der Lärm der spielenden Kinder da unten für Christine nicht störend sein könnte, besonders jetzt im Sommer, wo sie doch sicher gerne bei offenem Fenster arbeitete, kam aber zu dem Schluss, dass hier in der vierten Etage wahrscheinlich nicht mehr allzu viel davon zu hören sein würde. Außerdem mochte sie Kinder und fühlte sich sicher auch schon aus diesem Grund weniger von deren Getöse beeinträchtigt, als das zum Beispiel bei mir der Fall gewesen wäre. Sie fand leicht Zugang zu ihnen und konnte sich mit ihnen auf eine Art beschäftigen, wie ich es mir für mich nicht hätte vorstellen können und wie ich es im Übrigen auch nicht gewollt hätte. Ich langweile mich in der Gegenwart von Kindern, ihre Welt und ihre Bedürfnisse sind mir fremd, und Christine hatte glücklicherweise auch nie den Wunsch geäußert, selbst welche zu haben.
„Muss ja eine spannende Aussicht sein“, ließ sie sich jetzt hinter mir vernehmen. Ich sprach sie auf den Spielplatz an, und sie bestätigte mir nicht nur meine Vermutungen, sondern fügte hinzu, manchmal, wenn sie nach drei, vier Stunden Arbeit müde sei, gehe sie auch hinunter, setze sich auf eine der Bänke und schaue den Kleinen zu. Das entspanne sie mehr als alles andere, und auch, als sie noch in Schöneberg gewohnt habe, habe sie ja bei ihren Spaziergängen durch den Volkspark während der Arbeitspausen oft am Spielplatz halt gemacht. Vor allem die Unmittelbarkeit und die Rückhaltlosigkeit der kindlichen Gefühlsäußerungen berühre sie immer aufs Neue, auch ihre Authentizität – was Kinder zeigten, sei echt, und darin unterschieden sie sich wohltuend von Erwachsenen.
Ich war – wieder einmal – überrascht. Natürlich hatte ich gewusst, dass sie sich oft mit Spaziergängen im Volkspark entspannte, was ja auch nahe lag, da es von uns bis dorthin nur ein paar Schritte gewesen waren. Dass sie dabei auch den Kindern ein so hohes Maß an Aufmerksamkeit schenkte, hatte sie jedoch nie erwähnt. Ich fragte sie, warum, und sie antwortete – und das sollte wie leichthingesagt klingen, was es auch tat, aber nicht ganz so sehr, wie sie wahrscheinlich glaubte oder es zumindest versuchte -, Kinder hätten mich doch nie besonders interessiert, und sie sei noch nicht einmal auf die Idee gekommen, dergleichen zu erzählen, und es sei letztlich ja auch ohne Belang.
Auf dem Nachhauseweg musste ich erneut an Christines Ausführungen denken. Hätte sie vielleicht doch gerne ein Kind gehabt, und das, was ich für Besessenheit von der Übersetzung literarischer Texte gehalten hatte, war zumindest zu einem guten Teil ihre Art, sich von diesem Wunsch abzulenken? Hatte sie nichts gesagt, weil es ihr als aussichtslos erschienen war, mich dafür zu gewinnen? Oder hätte sie mit mir, der ihrer Meinung nach Kandidat für einen frühen Herzinfarkt war und der dieses Risiko ganz bewusst und – wie sie mir ja unterstellte – fast mit Lust einging, hätte sie mit so jemandem sowieso kein Kind haben wollen? Und schließlich: Wenn ich von diesem – doch nicht geringen – Interesse an Kindern nichts bemerkt hatte – was war mir wohl noch alles entgangen? Was wusste ich von ihr – und was nicht? Wie gut kannte ich sie? War sie überhaupt die, für die ich sie hielt? Oder: war sie noch die, für die ich sie einmal gehalten hatte?
Diese Nacht schlief ich nicht sehr gut.
4.
Wir trafen uns von nun an tatsächlich nicht mehr nur an öffentlichen Orten, sondern hin und wieder auch bei einem von uns zu Hause. Wir aßen, tranken und hielten einander über die kleinen Geschehnisse unseres Alltags auf dem Laufenden. Wenn wir bei mir waren, spielte ich Christine auch einmal eine Jazz-CD oder neue französische Chansons vor (die ich eigens für diese Gelegenheit gekauft hatte, was ich natürlich nicht erwähnte); waren wir bei ihr, besprachen wir ab und zu Ergebnisse ihrer Übersetzungsarbeit. Ich empfand bei diesen Zusammenkünften eine große Vertrautheit zwischen uns, ich gierte förmlich nach ihnen. Christine aber weigerte sich, mich öfter als alle vier oder fünf Wochen zu sehen. Rief ich einmal vor der Zeit an, beschied sie mich mit Sätzen wie: „Wir haben uns doch kürzlich erst gesehen“ oder „Ich hab noch gar nichts Neues zu erzählen!“ – wenn ich Glück hatte. Sie war auch fähig zu sagen, sie habe schon etwas vor am Wochenende, und da Nachfragen nicht erlaubt war, konnte ich den betreffenden Samstag und Sonntag abschreiben. Ich war vor Unruhe und Eifersucht unfähig, mich auf irgend etwas zu konzentrieren, hockte zu Hause, trank und rauchte unmäßig und schaute mir von morgens bis abends Videos an, irgendwelche Krimis oder Western, die ich mir in der Videothek um die Ecke auslieh und die an mir vorüberflimmerten, bis ich erschöpft auf meiner Umberto-Caravaggio-Ledercouch, deren Kauf Christine vor einigen Jahren einmal angeregt hatte, einschlief.
Im Übrigen vermied