„Du bist doch nicht etwa eifersüchtig!?“
Ich sagte, dazu hätte ich ja wohl kein Recht.
Sie fuhr fort, mich anzuschauen. Ich schaute auf die Straße.
„Raymond ist 72“, sagte sie schließlich, in einem Ton, als würde das jede weitere Erklärung überflüssig machen.
Ich sagte: „Goethe hat mit 73 noch Ulrike von Levetzow angebaggert. Da war sie gerade mal 18.“
„Er hat sie aber nicht gekriegt.“
Wir hatten vor ziemlich langer Zeit einmal beide an einem Hauptseminar mit dem Titel „Goethes Frauen in Leben und Werk“ teilgenommen. Davon zehrten wir heute noch. Im Übrigen klang Christines letzte Bemerkung so, als sei dieses Thema damit für sie beendet. Für mich war es das keineswegs.
„Und Raymond?“, fragte ich weiter und wusste im selben Moment, dass dies eine Frage zu viel gewesen war. Ich hätte viel dafür gegeben, sie wieder zurücknehmen, auslöschen zu können, so, wie ich auch immer wieder Worte und Sätze auf dem Bildschirm auslösche, aber was gesagt ist, ist gesagt, und was gehört ist, ist gehört, und jetzt würde alles umsonst gewesen sein: der freigenommene Tag, die Aufräumaktion zu Hause, der Hahn, die sorgfältige Rasur, das Hetzen zum Flughafen im Berufsverkehr, alles. Christine würde jetzt schreien, toben, explodieren, würde mich sofort anhalten lassen und ihren Koffer aus dem Kofferraum zerren, und den Rest des Tages würde ich dann nach Belieben verbringen können, aber auf jeden Fall ohne sie. Dies alles wurde mir im selben Moment klar. Und letztlich ging diese Reaktion ja auch in Ordnung. Ich hatte nicht das Recht, sie nach solchen Dingen zu fragen oder sogar irgendwelche Geständnisse von ihr zu fordern. Wir waren getrennt, schon seit mehr als einem Jahr, und keiner hatte Ansprüche an den andern zu haben, und ich hatte ja auch keine. Aber ich hatte Wünsche und Sehnsüchte und Hoffnungen, ich war voller Begehren und auch voller Gier danach, sie zu sehen, sie zu berühren – was ich nicht durfte –, sie zu besitzen – was natürlich vollkommen unmöglich war. Ich war dumm, keinen Schlussstrich zu ziehen, ich war dumm, etwas immer noch für möglich zu halten, was schon lange nicht mehr möglich war, und ich war dumm, sie nicht ernst zu nehmen, wenn sie mir genau das sagte.
Der erwartete Ausbruch kam nicht. Nichts kam, kein Wort. Ich drehte mich zu ihr hin, und sie lächelte mir direkt ins Gesicht. In ihrem Lächeln lag Enttäuschung und Verachtung und Überdruss.
„Dafür hast du mich also abgeholt“, sagte sie endlich mit ganz ruhiger Stimme, „um mich zu verhören“. Dann wandte sie sich ab, ihr Lächeln verschwand allmählich, und sie schaute nur noch vor sich hin. Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße und wusste, dass das nicht alles gewesen sein konnte. Kurz vor der Schleuse brach es dann endlich aus ihr heraus, laut und roh: „Ich will mich aber nicht verhören lassen! Und deinen Rosenbusch will ich auch nicht!“ Sie drehte sich um, packte den Strauß, der mich immerhin an die hundert Euro gekostet hatte, und stieß ihn auf die Straße.
Noch bevor sie mich auffordern konnte, auf der Stelle anzuhalten und sie aussteigen zu lassen, trat ich auf die Bremse, gab aber sofort wieder Gas, weil fast im selben Moment die Reifen meines Hintermannes quietschten und seine Hupe die Sommerluft zerschnitt, schlüpfte etwa zwanzig Meter weiter in eine Lücke auf der Parkspur, stürzte aus dem Auto und rannte zurück zu dem Blumenstrauß, der mitten auf der Gegenfahrbahn lag. Das heißt, ich wollte zurückrennen. Ich hatte höchstens zwei oder drei Schritte gemacht, als ein Lastwagen mit Anhänger das Bouquet überrollte, es in ein Knäuel aus zerbrochenen Stielen, zerfetzten Blättern und zerquetschten Blüten verwandelte – und damit die Situation rettete. Denn was hätte ich getan mit dem Busch, wie Christine den Strauß zu nennen beliebte, wenn ich zu seiner Rettung nicht mindestens mein Leben riskiert gehabt hätte? Wie ein Trottel hätte ich damit vor ihr gestanden und hätte nichts geerntet als Verachtung. So aber taten ihr die grausam zugerichteten Rosen leid, und das kleine Sträußchen aus Schafgarbe, Taubnesseln und Hirtentäschel, das ich ihr als Ersatz geistesgegenwärtig auf dem Grünstreifen neben dem Kanal pflückte, rührte sie, und sie holte ihren Koffer nicht aus dem Kofferraum, sondern entschuldigte sich sogar und lächelte mich wieder an, ein bisschen jedenfalls, und ich durfte sie vollends nach Hause fahren.
Sogar meine Einladung zum Essen am Abend nahm sie an!
2.
„Ich bin ausgezogen. Christine.“
Der Zettel, ein Blatt unseres Tagesabreißkalenders, auf dessen rechten Rand die wenigen Worte gekritzelt waren, lag auf meinem Bett und enthielt keine weiteren Mitteilungen. Ich betrachtete mir kurz das Bild darauf, ein Gemälde von Camille Pissaro, das eine Ansicht des Pont-Neuf in Paris zeigte, dann zog ich mich aus und legte mich hin. Ich machte mir keine Gedanken darüber, ob Christine nur einfach einen Spaß hatte machen wollen oder ob sie wirklich verärgert war. Es war mir egal. Wir hatten zwei Tage später eine Präsentation, an der auch eine große Hamburger und eine Düsseldorfer Agentur teilnahmen, es war ein lohnender Etat, und wir mussten einfach etwas tun, wenn wir eine Chance haben wollten. Sie wusste das, und wenn sie trotzdem der Meinung war, mir zeigen zu müssen, dass sie mit meinem späten Nachhausekommen nicht einverstanden war: bitte! Ich stellte den Radiowecker auf elf Uhr, überlegte es mir aber noch einmal anders, drückte erneut auf das Einstellknöpfchen und machte aus der zweiten Eins eine Zwei. Fünf Stunden Schlaf hatte ich mir verdient nach fast zwanzig Stunden Arbeit.
Pünktlich um zwölf, mit dem letzten Ton des Zeitzeichens, schaltete sich das Radio ein, und die Mittagsnachrichten verscheuchten ziemlich schnell das Gefühl der Bedrückung, das ich unmittelbar nach dem Aufwachen noch empfunden hatte. Nicht, dass mich die Meldungen über einen Flugzeugabsturz vor der Westküste Afrikas, die Stolpersteine, die der Irak UN-Rüstungsinspektoren in den Weg legte oder die in bestimmten Teilen der SPD geführten Diskussionen über die Anhebung des Spitzensteuersatzes in besonders gute Stimmung versetzt hätten. Aber sie waren immer noch viel besser – oder sagen wir: ein bisschen besser – als der Alptraum, den ich wieder einmal gehabt haben musste und an dessen Einzelheiten ich mich, wie meistens, nicht mehr erinnern konnte. Christine sagte immer, ich sei gut im Verdrängen, und das sagte sie so, als ob das ein Makel wäre oder doch zumindest eine Schwäche, die man bestrebt sein müsse, so schnell und so gut wie möglich zu beheben. Ich hatte ihr einmal geantwortet, dass die Fähigkeit zu verdrängen von der Natur in uns angelegt worden sei, um die Welt besser ertragen zu können, und dass es jede Menge Dinge gebe, die man besser nicht dauernd mit sich herumschleppe, aber sie behauptete, dass einen die Monster dann eben im Schlaf überfielen, wie die Tatsache, dass ich ständig von Alpträumen heimgesucht würde, ja beweise. Wir diskutierten oft so lange, bis Christine sagte, wir seien eben sehr verschieden und passten eigentlich gar nicht zusammen, und irgendwann würden wir uns wohl doch trennen müssen. Ich sagte dann, sich zu trennen, weil der eine Alpträume habe und der andere sich beim Aufwachen nicht mehr erinnere, selbst auch welche gehabt zu haben – „ich habe keine“, pflegte Christine mich an dieser Stelle zu unterbrechen – sei doch ziemlich originell, und Christine giftete zurück, ich wisse genau, dass es nicht das sei, sondern meine Art, mit Dingen umzugehen, die ich selber als falsch und schädlich erkannt hätte und trotzdem täte, weil es nun einmal das Bequemste für mich sei, und ich würde einfach den Gedanken an das Falsche und Schädliche meines Tuns beiseiteschieben und fröhlich weitermachen. Dabei war ich im allgemeinen gar nicht sehr fröhlich, wenn ich an meinem Mac saß und sogenannte Fließtexte für Folder und Broschüren fabrizierte – denn das meinte sie mit dem „falschen“ und „schädlichen“ Treiben, das sie mir vorwarf. Ich galt in unserer Agentur als Spezialist für Texte, die aus mehr als zwei kurzen Sätzen bestanden und in denen womöglich sogar noch hier und da ein Komma oder, ganz exotisch, ein Strichpunkt unterzubringen war: Fließtexte eben. Günter und Robert, die beiden anderen Texter, die in schöner Regelmäßigkeit darauf verwiesen, dass sie eher fürs Creative zuständig seien, nämlich für Slogans und Headlines, Günter und Robert schoben mir so oft wie möglich die entsprechenden Jobs zu. Ich war im Übrigen beim Abfassen meiner Texte auch nicht unfröhlich, obwohl ich vielleicht ab und zu so aussah, sondern einfach konzentriert,