Der Schatten ihres Hündchens. Martin Frech. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Frech
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847677338
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ich auch noch zu dem einzigen Ort in der Wohnung, an dem ich noch nicht gewesen war: der Loggia. Auch hier war sie nicht. Was hätte sie auch hier draußen tun sollen? Ich beugte mich über die Brüstung und sah hinunter. Sie lag nicht auf dem Bürgersteig, und es gab auch keinen Blutfleck oder einen anderen Anhaltspunkt dafür, dass sie hinuntergefallen sein könnte.

      Ich ging zurück in die Küche. Ich schenkte mir noch einmal eine Tasse Kaffee ein. Christine, für die er eigentlich vorgesehen gewesen war, würde ihn ja wohl kaum trinken. Er war nur noch lauwarm. Ich steckte mir eine weitere Zigarette an. Das Knarren der Dielen musste aus der Wohnung über uns gekommen sein. Ich hatte mich schon öfter davon täuschen lassen. Aber heute war ich mir absolut sicher gewesen. Wahrscheinlich hatte ich einfach nur gewollt, dass sie zurück sei.

      Ich holte das Kalenderblatt aus dem Schlafzimmer. „Ich bin ausgezogen. Christine.“ Mehr stand immer noch nicht darauf.

      Eine Minute später hatte ich sie am Telefon. Sie war bei ihrer Freundin Barbara. Das „Ja?“, mit dem sie sich meldete, klang, als hingen Eiszapfen daran. Ich fragte sie, ob sie inzwischen wieder angezogen sei. Sie sagte nichts. Wahrscheinlich verstand sie den kleinen Scherz gar nicht. Ich wartete. Sie legte auf.

      Am liebsten wäre ich einfach wieder zur Arbeit gefahren, ohne mich weiter um dieses Spielchen meiner Ehefrau zu kümmern, das anfing, mir auf die Nerven zu gehen. Stattdessen drückte ich die Wahlwiederholungstaste, wartete geduldig, bis am anderen Ende ungefähr nach dem elften Freizeichen endlich abgenommen wurde – und hielt erschrocken den Hörer ein Stück von meinem Ohr weg.

      „Es ist aus, Micha, hörst du, es ist aus! Ich will nicht mehr, und ich kann auch nicht mehr, such dir meinetwegen eine andere, es ist mir egal, mach was du willst!“ Alle Kälte war aus Christines Stimme gewichen. Wie Donnerschläge eines Tropengewitters gingen ihre Worte und Sätze auf mich nieder. „... und bilde dir bloß nicht ein, ich werde nochmal schwach!“ Im selben Moment war die Verbindung erneut zu Ende.

      Ich drückte die Wahlwiederholungstaste nicht mehr.

      Ich saß einfach nur da.

      3.

      Diese Geschichte – der Zettel auf dem Bett, die lautstarke Aufkündigung unserer Beziehung am Telefon ein paar Stunden später und die wenige Tage darauf erfolgte Abholung verschiedener persönlicher Utensilien aus der gemeinsamen Wohnung – lag inzwischen ein gutes Jahr zurück. Vielleicht sollte ich eher sagen: ein schlechtes Jahr. Besonders die erste Zeit danach war schwer gewesen. Christine hatte sich wochenlang nicht nur geweigert, mich zu treffen, sondern es auch abgelehnt, am Telefon mit mir zu sprechen. Sie brauche jetzt erst einmal ein bisschen Zeit, um zu sich selbst zu kommen und herauszufinden, wo in der Welt sie stehe und wo sie hinwolle. Als ich sie fragte, ob es ihr möglich sei, ein kleines bisschen konkreter zu werden, sagte sie, das sei doch schon sehr konkret, und man könne sich mit ein wenig gutem Willen genug darunter vorstellen. Genau das war mein Problem. Ich hatte eine sehr große Menge guten Willens, und wenn ich gewollt hätte, hätte ich mir tage- und nächtelang irgendwelche Dinge vorstellen können, darunter ziemlich viele, die mir schon nicht gefielen, bevor ich überhaupt mit dem Vorstellen begann. Alleine an dem Wörtchen „herausfinden“ konnte sich meine Phantasie aufs Schauerlichste entzünden, was freilich nicht in meinem Interesse lag. Ich wollte nicht vermuten, ich wollte nicht raten, und ich wollte mir auch nicht vorstellen. Ich wollte wissen! Zum Beispiel, ob es einen anderen Mann gab und wenn ja – bei diesem Gedanken spürte ich schon, wie mir das Blut aus dem Gehirn wich –, also, wenn ja, wie der Stand der Dinge war. Aber mir war klar, dass es keinen Zweck hatte, weiter in sie zu dringen. Ich konnte nichts anderes tun als warten.

      Ein Trost immerhin war, dass sie nicht sehr viel mehr als einige Bücher und ihre persönlichen Sachen mitgenommen hatte, was sie damit begründete, dass ja alles von meinem Geld angeschafft worden sei. Damit verletzte sie mich zwar einerseits, weil ich uns immer als Einheit empfunden hatte, was, meiner Meinung nach, eigentlich auch zur Folge hätte haben müssen, dass, was wir uns für den gemeinsamen Haushalt zulegten, uns gehörte und nicht dem einen oder dem anderen. Ich war davon ausgegangen, dass das auch ihre Sichtweise sei. Nun kam es mir so vor, als sei ihr Hinweis bezüglich der Eigentumsverhältnisse eine nachträgliche Aufkündigung dieser Einheit oder gar, als wollte sie mir zu verstehen geben, dass es so eine Einheit nie gegeben habe. Andererseits aber machte mir diese Zurückhaltung beim Mitnehmen doch wieder ein bisschen Mut, weil man es ja auch so interpretieren konnte, dass sie die bestehende Form der Wohnung, unserer Wohnung, die wir gemeinsam gesucht und gemeinsam eingerichtet hatten, nicht zu zerstören wünschte, weil sie sie als für unser Zusammenleben zentralen Ort betrachtete und diesen erhalten wollte, woraus man wiederum folgern konnte, dass für sie unsere Beziehung doch noch nicht endgültig gescheitert war oder zumindest von ihr nicht als nicht wiederherstellbar angesehen wurde.

      Meine Tätigkeiten außerhalb der Agentur beschränkten sich in diesen Wochen weitestgehend auf das, was jede mittelmäßige Film- oder Romanfigur in einer entsprechenden Situation getan hätte und was ich aufgrund meiner Sympathie für nicht wenige dieser traurigen Gestalten fast schon als so etwas wie meine Pflicht betrachtete: Rauchen (Gauloises), Trinken (Scotch) und Grübeln (endlos und quälend). Immer wieder versuchte ich zu rekonstruieren, was gewesen war und dieses Gewesene zu analysieren, aber meistens kam ich nicht allzu weit damit, weil mich der ständig steigende Alkoholpegel bald daran hinderte, noch einen einigermaßen klaren Gedanken zu fassen. Die Düsterkeit und die Ausweglosigkeit und der Whisky ermüdeten mich schließlich so sehr, dass mir die Augen zufielen. Am nächsten Abend fing alles wieder von vorne an.

      Es dauerte nicht lange, bis gewisse Veränderungen vor allem in meinem Gesicht unübersehbar waren: Ich bekam so etwas wie Bäckchen, die aber leider nichts Frisches, Gesundes hatten; die Haut wurde blasser, unter den Augen entwickelte sich eine zuerst zarte, aber an Intensität schnell zunehmende blau-violette Tönung, und über das Weiß der Augäpfel legte sich ein Netz rötlich schimmernder Äderchen, dessen Maschen immer enger wurden. Auch mein Haar schien allmählich stumpfer zu werden, was mich veranlasste, ihm nach dem morgendlichen Duschen etwas Gel zuzusetzen.

      Auf der Arbeit stellte dies alles erst einmal kein Problem dar. Dort gab es immer wieder solche Fälle, und solange man funktionierte, durfte man auch etwas angenagt aussehen – die Kleidung selbstverständlich ausgenommen. Christine aber, die sich etwa vier Wochen nach ihrem Auszug endlich wieder meldete und mit der ich mich einige Tage später in einer Pizzeria traf – zu mir nach Hause kommen wollte sie nicht, weil, wie sie sagte, unsere Situation sich geändert habe und einen anderen als den vertrauten Rahmen nötig mache, der einen, womit sie natürlich sagen wollte: mich, am Ende nur auf die Idee bringe, es sei möglich, da weiterzumachen, wo wir aufgehört hätten - wir! -, und ich wiederum wollte mich nicht mit ihr in der Wohnung, die sie inzwischen gefunden hatte, treffen, weil das nichts anderes gewesen wäre als ein deutliches Zeichen dafür, dass ich mich mit den von ihr geschaffenen Tatsachen doch abzufinden bereit war und ein Schritt in Richtung Anerkennung einer Situation als normal, die ja weder normal war noch es werden sollte – Christine gelang es nicht, sich der Wirkung meines Säuferantlitzes zu entziehen. Zwar glaubte sie mit der Frage, ob ich jetzt den Kaffee durch Schnaps ersetzt hätte, zeigen zu können, wie unbeeindruckt sie war, aber ich merkte genau, wie sie erschrak, als sie mich erblickte, und es tat mir gut!

      Ansonsten sah es immerhin nicht so aus, als sei schon ein anderer an meinen Platz getreten oder zumindest auf dem Weg dorthin, wenn sie es auch ablehnte, sich deutlich zu diesbezüglichen Fragen zu äußern. Mein Eindruck war, dass sie vor allem deshalb eine klare Aussage zu diesem Thema verweigerte, weil sie mir nicht das Gefühl geben wollte, ich hätte ein Recht auf solche Fragen – was ja wiederum Rückschlüsse auf eine gewisse Qualität unserer Beziehung zugelassen hätte.

      An einem lauen Sommerabend wurde ich dann doch schwach. Christine hatte mir erlaubt, sie ins Petit Escargot zum Essen einzuladen, wir hatten eine Flasche Châteauneuf du Pape dazu getrunken, waren noch ein bisschen spazieren gegangen, und als sie schon im Begriff war, vor ihrem Haus aus meinem Auto zu steigen, fragte sie mich, ob ich nicht Lust hätte, noch auf einen Schluck mit nach oben zu kommen. Ich stufte kurzerhand mein Prinzip, ihre Wohnung nicht zu betreten, als