Der Schatten ihres Hündchens. Martin Frech. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Frech
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847677338
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hatte, mir sehr viel zu ersparen, Zuflucht zu einer kleinen Lüge zu nehmen, sagte ich schlicht „ja“ und gab ihm damit Gelegenheit, ebenso schlicht zu sagen: „Ich bin Jeremy Clark aus Saint Louis, Missouri. Ich glaube, ich bin Ihr Ururgroßcousin.“

      Ich habe seither oft überlegt, wieso in aller Welt ich diesen Mann hereingelassen habe. Ein absolut Fremder, schon an seiner Kleidung problemlos als zu einer anderen Welt gehörig erkennbar und, um das Maß voll zu machen, auch noch dieses Fortbewegungsmonstrum mit sich führend, das er übrigens ohne zu zögern und mir dabei keine Chance lassend, dagegen einzuschreiten, über die Schwelle meiner Wohnung schob und in der Diele so dicht neben der Art-Déco-Kommode abstellte, dass ich gar nicht hinschauen mochte. Vielleicht, habe ich manchmal gedacht, war es dieses merkwürdige Wort „Ururgroßcousin“ gewesen, das ich bis dahin noch nie gehört hatte und das ihn zu etwas sehr Besonderem, Einzigartigem machte, das ihn, jedenfalls im ersten Moment der Verwirrung, als jemanden zu bezeichnen schien, der aus einer weit zurückliegenden Epoche der Menschheitsentwicklung kam, aus den frühen Jahren des Holozän vielleicht noch, wo er seine Steinkeule zur Seite gestellt und den zottigen Pelz eines unter Lebensgefahr erjagten Braunbären von sich geworfen hatte, um sich aufs Fahrrad zu schwingen und sich auf den Weg zu mir zu machen, seinem weit entfernten Verwandten, und der nun, am Ende seiner langen Reise, sehr, sehr müde sein musste – hätte ich so jemanden abweisen können? Letztlich habe ich mich aber dann doch für eine andere Erklärung entschieden, nämlich dass es eigentlich Christine gewesen war, die dem guten Jeremy den Weg in meine Wohnung freigeräumt hatte, mit ihrem Lachen, mit dem sie mir, unmittelbar bevor die Türglocke ertönt war, zu verstehen gegeben hatte, was für ein Würstchen ich doch geworden sei. Damit hatte sie den Hausbesetzer in mir geweckt, der niemanden abwies, der vor seiner Tür erschien – vorausgesetzt natürlich, er trug keine grüne Uniform. „Bitte, kommen Sie doch herein“, hatte ich gesagt und damit Christine und vor allem auch mir selbst gezeigt, dass ich so schlimm, wie sie es mir unterstellte, doch noch nicht geworden war. Der Werbetexter wäre nicht so dumm gewesen. Er hätte gewusst, dass die Dinge in den allermeisten Fällen nicht so sind, wie behauptet wird. Aber der Werbetexter war nun einmal ausgeschaltet gewesen in diesem Moment.

      Christine war dann, trotz ihrer Trunkenheit in fortgeschrittenem Stadium, im Gegensatz zu mir sofort aufgefallen, dass zwischen dem Alter, auf das der Begriff „Ururgroßcousin“ hinzuweisen schien und dem Aussehen unseres Besuchers ein auffälliges Missverhältnis bestand. „Dann stammen Sie ja noch aus dem 19. Jahrhundert!“ stellte sie, auf aufreizende Art die tief Beeindruckte spielend, fest. „Dafür sehen Sie aber noch erstaunlich knackig aus!“ Ich kam mir vor wie ein tumber Tor, der sich auf billigste Art hatte übertölpeln lassen. Einzig die Tatsache, dass auch Jeremy von ihrer Bemerkung ziemlich verwirrt zu sein schien, hielt mich davon ab, ihn umgehend wieder hinauszuwerfen. Wobei allerdings nicht ganz klar war, ob seine Verwirrung von Christines prompter Schlussfolgerung ausgelöst wurde oder von seiner Qualifizierung als „knackig“ oder einfach davon, dass ihm dieses Adjektiv unbekannt war. Vielleicht war es auch alles zusammen. Mir jedenfalls gefiel die Bemerkung nicht besonders, da dieses Wort nicht nur Spott, sondern durchaus auch Anerkennung ausdrückte. Christine aber lachte und forderte unseren Besucher auf, sich doch zu uns zu setzen, holte ihm einen Teller, ein Glas, Besteck – er sei doch sicher hungrig und durstig – und Jeremy folgte, etwas zögernd, aber letztlich doch bereitwillig ihrer Einladung. Ich konnte die Dinge nur noch ihren Lauf nehmen lassen, denn einmal abgesehen davon, dass ich es ja gewesen war, der ihn hereingebeten und damit den ersten Schritt getan hatte, war mir klar, dass Christine es mir sehr übel genommen hätte, wenn ich ihn wieder hinauskomplimentiert hätte, bevor sie ihre Neugierde befriedigt hatte. Ich kannte sie gut genug um zu wissen, dass sie neugierig war. Und dass es sie amüsierte, mich in einer Situation zu sehen, die nicht mehr allzu viel zu tun haben konnte mit dem, was ich mir von einem Treffen mit ihr erhofft haben mochte.

      Jeremy machte sich nun ohne Umschweife über die noch recht üppigen Reste in den Schüsseln her. Sein Essverhalten ließ nur zwei Schlüsse zu: Entweder er war vollkommen ausgehungert, oder mein Hahn mundete ihm ganz außerordentlich. Es hätte mich nicht sehr gestört, wenn er zwischen zwei Bissen auch schon einmal die eine oder andere Bemerkung bezüglich seines doch recht unerwarteten Erscheinens gemacht hätte, zum Beispiel, worauf seine Annahme, wir seien füreinander irgendeine Art von Cousin, überhaupt basierte, wie er zu meiner Adresse und dann hierher gekommen war, wieso er dieses Fahrrad mit sich führte und so weiter. Aber man hatte ihm wohl irgendwann einmal beigebracht, dass man beim Essen nicht spricht, und daran hielt er sich mit beeindruckender Konsequenz. „Schmeckt’s Ihnen?“, fragte Christine zwischendurch einmal überflüssigerweise, und er sagte, es sei „delicious“, und sie sei eine sehr gute Köchin. Sie widersprach ihm und sagte, sie koche ausgesprochen schlecht, und das empfand er dann wohl doch als allzu große Bescheidenheit, seine Kaubewegungen stockten, sein Blick ging von Christine zu dem kleinen Rest Geflügelfleisch auf seinem Teller und zurück, aber nein, es sei wirklich hervorragend! -, und Christine klärte ihn darüber auf, dass ich es gewesen war, der das Essen zubereitet hatte. Sie liebte diese kleinen Verwirrspielchen und hatte ihren Spaß dabei.

      Jeremy schaute mich überrascht an. „Oh, wirklich?“

      Ich bestätigte Christines Aussage, und da ihm mehr dazu offenbar nicht einfiel, aß er weiter. Er schien mit einem recht unkomplizierten Naturell gesegnet und weit davon entfernt zu sein, irgendeine Erwartung unsererseits für möglich zu halten oder die Situation als wenigstens ansatzweise unbehaglich zu empfinden. Also saßen wir da, nippten ab und zu an unseren Gläsern und übten uns in Geduld. Da es uns als unhöflich erschienen wäre, ein angeregtes Gespräch zu führen, ohne den Neuankömmling einzubeziehen, und da dieser wiederum ganz offensichtlich im Moment uneinbeziehbar war, da wir andererseits aber auch schlecht einfach da hocken und der Gabelbewegung von seinem Teller hoch zu seinem gefräßigen Mund und zurück folgen konnten, entschieden wir uns für eine Konversation auf Sparflamme. Hier eine Bemerkung zum Wein, da eine zu den hochsommerlichen Temperaturen, die einen schon fast von einer Klimaanlage träumen lassen würden, dazwischen einmal wieder ein vorsichtiger Versuch Christines, Jeremy doch schon aus der Reserve zu locken, bevor er sich auch noch das letzte Zipfelchen Gemüse einverleibt hatte: ob es am Tage nicht viel zu heiß sei für eine größere Fahrradtour, wie er sie offenbar hinter sich habe?

      Nein, nein, das Wetter sei wunderbar, geradezu perfekt! - und ein forschender Blick in die Schüssel, und der anschließende Griff zu Messer und großer Geflügelgabel setzten auch schon wieder den Schlusspunkt unter seine Antwort.

      Ich fragte mich unwillkürlich, wie er wohl mit der Käseplatte umgehen würde, und als der Moment gekommen war, sie ihm vorzusetzen, weil sich wirklich nichts Essbares mehr auf dem Tisch befand, entschloss ich mich, diesen Gang einfach ausfallen zu lassen. Wer aus dem Land von Coca Cola und Doppel-Whopper kam, kannte Käse wahrscheinlich nur vom Cheese-Burger, und für so einen Gaumen waren mir mein Rohmilchmorbier, der frische Ziegenkäse und der Iberico zu schade. Außerdem war mir inzwischen wieder das kleine Scharmützel eingefallen, das zwischen Christine und mir unmittelbar vor der Ankunft unseres Gastes begonnen hatte, und obwohl ich dabei der Ausgelachte und Verhöhnte gewesen war, ärgerte ich mich nun doch darüber, dass infolge der völlig neuen Situation alles, was sich womöglich daraus ergeben hätte, hinfällig geworden war. Auch später, als ich im Bett lag und nicht abschalten und daher auch nicht einschlafen konnte und der vergangene Tag wie ein Film vor meinem inneren Auge ablief, drängte sich der Gedanke, dass diese Auseinandersetzung vielleicht doch der Impuls für einen Neuanfang hätte sein können, wieder in mein Hirn, er quälte mich noch über Wochen und Monate hinweg immer aufs Neue, und letztlich tut er es bis heute. Denn es ist ja nicht zu bestreiten, dass just in den Momenten vor dem Ertönen der Türklingel eine Qualität in unser Streitgespräch gekommen war, die es lange nicht mehr gegeben hatte und die vor allem darin ihren Ausdruck fand, dass Christine mir mit ihrem beißenden Spott vermittelte, dass sie, entgegen dem Eindruck, den sie bei früheren Treffen immer wieder gemacht hatte, dem, was ich tat und den Veränderungen, die sie glaubte, bei mir feststellen zu können, durchaus nicht gleichgültig gegenüberstand. Gewiss, die Zeit, als wir uns bei dieser Art von Disputen so aneinander erhitzt hatten, dass es uns irgendwann zu einer gemeinsamen Entladung im Bett drängte, lag ziemlich lange zurück, und es war nicht gerade sehr wahrscheinlich, dass es ausgerechnet an diesem Abend, wäre Jeremy nicht