- Jetzt, wie mit einem Zauberschlag, klafften die beiden schroffen Felsenwände zurück, während das Fahrzeug, von Wind und Fluth begünstigt, rasch durch die enge Straße schoß, und weit voraus öffnete sich das herrliche, großartige Wasserbecken der Bai von San Francisco, an dessen rechter Seite, nur noch von einer vorspringenden Landzunge geschützt, sie schon den Mastenwald der dort ankernden Schiffe erkennen konnten. Das war ein Drängen und Fragen und Jubeln und Laufen an Bord, denn wunderbar rasch entfaltete sich mehr und mehr das eigenthümliche Leben der Bai vor ihren Augen; aber zum Antworten hatte Niemand Zeit oder Lust. Jeder wollte nur sehen - genießen, und achtete schon des Gegenwärtigen nicht mehr, denn gerad' voraus enthüllte sich mit jeder Schiffslänge mehr das eigentliche Ziel der langen Fahrt, die Hauptstadt ihrer goldenen Träume: San Francisco.
Noch hatten sie erst einzelne zerstreute Häuser und Zelte auf den dort nächsten Hängen erkannt; plötzlich aber, die /31/ Spitze der Landzunge umfahrend, lag die wunderlichste Stadt der Erde in ihrer ganzen Ausdehnung, vorn von Hunderten von abgetakelten Schiffen, im Hintergründe von kahlen Bergen umschlossen, vor ihnen da. Der eigene niederrasselnde Anker - die herrlichste Musik nach so langer Fahrt - brachte sie auch erst wieder zu sich selber und kündete den Passagieren, daß ihr passives Leben, dem sie sich fast ein halbes Jahr gezwungen hingegeben, jetzt einem thätigen, selbstständigen Raum machen müsse.
Der Anker faßte - das Hintertheil ihres Fahrzeugs schwang herum, den Bug der Einfahrt wieder zugekehrt, und zu gleicher Zeit fielen die Raaen und flatterten die gelösten Segel und kletterten die Matrosen nach oben, die in der scharfen Brise auswehende Leinwand fest zu beschlagen. Das Manöver aber, das zu jeder andern Zeit die Aufmerksamkeit der Passagiere gefesselt haben würde, blieb in diesem Augenblick von ihnen vollkommen unbeachtet. Da draußen war mehr zu sehen, als ihnen ihr eigenes Schiff und dessen Regierung bieten konnte, und wer von ihnen gerade nicht damit beschäftigt war, sein eigenes Gepäck zusammenzuraffen, hing gewiß an der Schanzkleidung und schaute hinüber nach dem lärmenden Leben und Treiben der Bai.
Dicht neben der Leontine, d. h. vielleicht zweihundert Schritte davon entfernt, lag eine Bremer Barke, die gleichfalls eben, oder doch vor ganz kurzer Zeit eingekommen schien; sie hatte wenigstens ein flachbodiges Boot langseits, in das die Seeleute die Güter der Passagiere hinabließen. Das Lichterfahrzeug war auch geräumig genug, eine ziemlich schwere Last und eine Anzahl von Menschen zu fassen. Kisten und Kasten, Ballen, Fässer, Koffer und Hutschachteln standen schon in Masse darin weggestaut, und die wunderlichste menschliche Fracht hütete überdies dabei ihr Eigenthum und wartete auf den Moment des Abstoßens.
Fast Alle waren bis an die Zähne bewaffnet mit Flinten, Pistolen, Säbeln und Dolchen; ganze Bündel Spaten, Spitzhacken und Brecheisen lagen ebenfalls in dem Boot aufgeschichtet, und ein paar matrosenähnliche Burschen mit rothen chinesischen Schärpen und Strohhüten auf - aber ohne /32/ Dolche und Pistolen - schienen die Führer des californischen Bootes zu sein.
„Alle an Bord?" rief jetzt der Steuermann der Bremer Barke vom Deck hinunter.
„Alle - Gott sei Dank, daß wir Euer nichtsnutziges Schiff hinter uns haben!" schrie einer der Passagiere.
„Ihr werdet froh sein, wenn Ihr hier trocken Brod zu kauen habt!" rief da der Capitain von seinem Quarterdeck aus.
„Und das wird uns gut schmecken, wenn wir Eure Fratze nicht mehr dabei anzusehen haben, Capitain Meier," lautete die wenig schmeichelhafte Antwort.
„Werft die Falle da los!" tönte der Ruf des Steuermanns über Deck - „na, was heißt das? - was schleppt Ihr das Boot noch weiter nach vorn? Hinunter mit den Tauen!"
„Ja woll, Stürmann!" lachte einer der Matrosen - „Alles in Ordnung! - soll gleich besorgt sein!"
„Halt! - was werft Ihr da noch hinunter?" schrie der Steuermann plötzlich, als sechs oder acht weißleinene, festgeschnürte Säcke in das Boot hinabflogen. „Was ist das? - was geht da vor?"
„Nichts, mein Herzchen; nur unsere Garderobe," lautete die Antwort des Matrosen zurück, und wie die Katzen folgten eben so viele der Seeleute ihrem vorangegangenen Eigenthum in das Boot.
„Halt - Donnerwetter, das wird zu viel!" riefen die beiden Eigenthümer erschreckt - „wir sinken!"
„Gott bewahre - Kameraden - stoßt ab! aho ih!" - und sich mit bestem Willen gegen die Seite ihres eigenen Schiffes legend, schoben sie das vierkantige Frachtfahrzeug ein Stück ab und in offenes Wasser hinaus.
„Ihr dürft nicht abstoßen! bleibt hier! - halt! meine Jolle hinunter!" schrie und tobte der Capitain auf seinem Deck herum, denn diese kecke Flucht der eigenen Leute, gerad' unter seinen Augen, war ihm doch außer dem Spaß. Die Bootführer kehrten sich aber entsetzlich wenig an seine Ausrufungen. Erstlich bekamen sie von jedem Kopf, den sie mehr hinüberbrachten, einen Dollar extra, und dann waren es /33/ ebenfalls weggelaufene Matrosen, die andere Kameraden nicht so leicht im Stiche ließen. Freilich führten sie nur zwei Ruder, und das Boot ging so schwer im Wasser, daß sie entsetzlich langsam damit fortrücken konnten, aber das Land war auch nicht weit entfernt, und das erst einmal erreicht, und alle Capitaine der Bai hätten sie nicht wieder holen können.
Capitain Meier gedachte indessen nicht, sie bis an Land zu lassen, und hoffte noch immer genug von seiner Autorität über die Leute, sie vorher zurück und aus dem Boote zu holen.
Rasch sank die schon bereitgehaltene Jolle auf's Wasser nieder, und mit seinen beiden Steuerleuten, wie dem Zimmermann und Koch, setzte er den Flüchtigen nach, die er auch bald eingeholt hatte. Das viereckige kastenartige Fahrzeug war gerade vor dem Bug der Leontine vorübergefahren, und zwar so dicht, daß das eine Ruder die angespannte Ankerkette streifte, als die leichtgebaute Jolle heranschoß und der Capitain seine Leute barsch herüber und zu sich an Bord beorderte. Sein Empfang dort lautete aber nicht ermunternd.
„Komm herüber und hol' uns, mein Schatz!" riefen ihm die Matrosen höhnend zu, während die Passagiere ihren bisherigen Schiffsführer mit Schmähungen überhäuften. Alle nur erdenklichen Schimpfwörter wurden gegen ihn geschleudert und selbst dabei blieb es nicht, denn Stücken Zwieback flogen gegen ihn an, und mit den Blechbechern schöpften Einige Wasser und gossen es nach ihm.
Mit Gewalt war da nichts auszurichten, so viel sah Capitain Meier endlich ein, und den Bug seines Bootes herumwerfend, hielt er, so rasch er konnte, der nächsten Landung zu, wahrscheinlich um gerichtliche Hülfe in Anspruch zu nehmen. War das übrigens seine Absicht gewesen, so kam er damit zu spät, denn das Lichterboot gelangte bald darauf an eine Stelle, wo es die Matrosen bequem an Land setzen konnte. Diese schulterten dort ihre Säcke, zahlten ihr Ueberfahrtsgeld und waren im nächsten Augenblick in dem Gewühl am Ufer verschwunden, wahrend das Boot jetzt langsam dem gewöhnlichen Landungsplatz entgegenruderte. /34/
Der Capitain der Leontine schien einmal nicht übel Lust zu haben, seinem Kollegen zu Hülfe zu eilen, besann sich aber doch wieder eines Besseren und mischte sich nicht in fremde Händel, deren günstiges Resultat immer nur höchst zweifelhaft geblieben wäre.
Die Passagiere und besonders die Matrosen hatten übrigens dieser Scene mit außerordentlichem Interesse zugeschaut, und wie auf gemeinschaftliche Verabredung stockten, so lange sie dauerte, alle Arbeiten. Der Capitain selbst vergaß ganz, daß sich die eigenen Leute doch am Ende ein Beispiel daran nehmen könnten, und nur erst als die Deserteure an Land und jubelnd den Abhang hinaufsprangen, rief er seine Mannschaft mit lauter und barscher Stimme an ihre Arbeit zurück. Dadurch wurden die Passagiere aber ebenfalls gemahnt, daß sie hier ihre Zeit nutzlos vergeudeten. Dort drüben lag Kalifornien, und Alles drängte und schrie durcheinander nach einem Boot, das Schiff so rasch als möglich zu verlassen.
So sehr sich nun die Auswanderer bei ihrer Landung in Nordamerika oder Australien scheuen, das Schiff gleich die ersten Tage zu verlassen, weil sie doch gern erst einmal recognosciren und den Boden kennen lernen wollen, auf dem sie ihre neue Heimath gründen sollen; so rücksichtslos suchte jetzt hier Alles nur Land