Die letzte Lektion. Friedrich Wulf. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Friedrich Wulf
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847673118
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wenig zu kurz geriet, erbebte das Büfett unter Horsts Arschbombe und verursachte ein völlig neues Arrangement des Nobelfutters über die Hälfte des Raums.

      Die in der Nähe stehende Kultusministerin machte eine erstaunliche Erfahrung: Es gab in der Welt mehr Krabben, als ihr Dekolleté fassen konnte. Reizvoll hingegen, ausgesprochen schmückend machten sich die rosa Mollusken in der schwarzen Wolle des kraushaarigen Regisseurs.

      Eine Punschschale funkelte vergnügt bei ihrem Flug durch die Luft und machte aus dem Chef der Unterhaltung einen Taucher, jedenfalls bis zum Hals. Den ersten Teil der Warnung hatte er noch gehört: „Achtung da kommt eine…“ Aber die restlichen Worte prallten schon an der Glasglocke ab, die sich perfekt über seinen Kopf gestülpt hatte. Das waren Erlebnisse!

      Den Chefredakteur, dessen famose Feier das sein sollte, fand man später leise wimmernd in seinem Arbeitszimmer, wo er auf Rache sann. Dass seine Aussichten auf die Abteilungsleiterposition verpufft waren in einer Explosion aus Wachtelbrüstchen und Störrogen, das sollte dieser verfluchte Krock ihm büßen.

      „Haben Sie etwas zu den Vorwürfen zu sagen, bevor wir entscheiden, welche Disziplinarmaßnahmen wir vorschlagen werden?“, fragte ihn Gallenstein.

      Weil Horst über die beiden Morde an den Lehrern sinnierte, erwischte ihn die Frage unvorbereitet. Wie sollte er darauf vernünftigerweise antworten? Etwa mit einer kompromisslosen Angriffsverteidigung? Oder mit einem weinerlichen Eingeständnis seiner Schuld? Vielleicht ein explosives Plädoyer für mildernde Umstände? Ein Meisterstück silberzüngiger Eloquenz wäre nun vonnöten, doch heraus kam nur: „Quark!“

      „Bitte sehr, ist Ihre Entscheidung…“

      Arschgeigen! Die Entscheidung war doch längst gefallen, schon gefallen, bevor die Befragung begonnen hatte. Er machte sich auf das Schlimmste gefasst und überlegte, was auf Gallensteins hoher Oberlippe fehlte.

      „Wir haben entschieden“, fuhr Gallenstein fort, „dass Sie eine offizielle und zugleich letzte Warnung erhalten in Übereinstimmung mit dem Arbeitsschutzgesetz. Sie werden darüber informiert, dass jede Wiederholung Ihres liederlichen Verhaltens die Empfehlung zur Folge haben wird, Sie auf der Stelle zu entlassen.“

      War das schon alles?

      „Außerdem ist entschieden worden, dass es zu Ihrem und dem Besten der Redaktion gereicht, wenn Sie ein paar Monate in einer anderen Abteilung tätig wären. Für die Dauer von zwölf Monaten stehen Sie in Verbindung (PR Jargon für Versetzung) mit der Klagen- und Korrespondenzabteilung.“

      Ihr Götter, dachte Horst, diese Kröte! Das war es also. Sie schoben seinen Tod nicht aus Mitgefühl auf, sondern aus Sadismus. Der PR erhielt jedes Jahr Tausende und Abertausende von Beschwerdebriefen. Die Verfasser der Briefe beklagten sich hauptsächlich über zu viel Sex im Fernsehen. Vermutlich kamen die Sexbeschwerden von Leuten, die zu wenig davon bekamen und die Klagen über zu viel Gewalt kam wohl von Menschen, die aus einer ordentlichen Tracht Prügel erheblichen Nutzen ziehen würden. Diesen Leuten ein einlullendes Eiapopeia zu singen, das war die Aufgabe der Beschwerdeabteilung. Es war die abscheulichste Abteilung im ganzen Haus und hieß unter Insidern auch Sibirien, obgleich die Analogie mit sowjetischen Irrenhäusern angemessener gewesen wäre, in die sie normale Leute steckten, um sie in den Wahnsinn zu treiben. Kernige Kraftkerle und Energiefrauen waren aus der Beschwerdeabteilung herausgetragen worden, weißhaarig und schreiend, nach nur drei Monaten. Und nun hatten sie vor, ihn dort für zwölf Monde hineinzustecken. Er konnte nicht einmal genug Energie oder Verachtung aufbringen, um Quark zu sagen.

      Gallenstein gratulierte sich innerlich für seine Vorstellung. So etwas wie ein Lächeln verirrte sich in seinem Gesicht, als er zum Ende kam.

      „Ihre Verbindung mit der Beschwerdeabteilung beginnt“, hob er an, „sof…“

      Bevor er den Satz beenden konnte, klopfte es an der Tür.

      „Tut mir leid, dass ich unterbrechen muss“, sagte der Volontär, „aber da ist jemand für Horst am Telefon und wir meinen, er sollte mit dem Anrufer reden.

      „Verfluchter Idiot“, sagte der Chefredakteur, „nicht jetzt! Sagen Sie, Krock ruft zurück.“

      „Entschuldigung bitte, aber ich denke,…“

      Horst brauchte keine zweite Einladung. Bevor der schreckliche Gallenstein den Gulag über ihn verhängen konnte, eilte Horst den Korridor hinunter.

      „Wer ist es“, fragte er seinen Retter.

      „Wir sind uns nicht sicher, aber er wollte nur mit Ihnen reden.“

      Der Anruf war über die Hotline des PR hereingekommen. Horst nahm den Hörer, erwartete einen Gläubiger oder eine ausrangierte Freundin, und versuchte scharf zu klingen.

      „Krock!“

      „Warum haben Sie den Hörern nicht von meinen Morden erzählt, Horst?“ Die Stimme klang männlich, wohltönend: Ein Student in den Zwanzigern hätte man Horst raten lassen.

      „Welche Morde, Sie Clown?“

      „Huhu, die Lehrerclowns Horst. Warum bringen Sie nichts darüber Horst?“ Das Nachbild von Gallenstein noch vor Augen haderte Horst mit der Ungerechtigkeit des Daseins. Warum er, warum hatten die Verrückten es auf immer ihn abgesehen?

      „Die Lehrer also, und was wissen Sie darüber?“

      „Eine Notiz lag beim ersten.“

      Der Verrückte gab den Wortlaut wieder.

      „Und eine zweite beim zweiten Toten.“

      „Auch die kannte er offenbar auswendig.“

      Horst bebte inzwischen vor Anspannung und Jagdlust. An der Strippe, das war keine Ente.

      „Horst, ich rufe nur an, um Ihnen zu sagen,…“

      „Warten Sie, wo sind Sie?“

      „Ich rufe nur an, um Ihnen zu sagen, Horst, ich möchte, dass Sie alle Einzelheiten berichten. Ach ja - und Horst, es gibt einen neuen. Heute Nacht, noch vor Mitternacht.

      Acht

      Die Lehrermorde, mit denen Kommissar Max Berger sich herumplagen musste, waren nicht nach seinem Geschmack. Er hasste diese undurchsichtigen Fälle, wenn der Mörder nicht, wie sich das gehörte, ein naher Verwandter war oder sogar ein Familienmitglied. Die Ausnahmen waren schwieriger aufzuklären als die üblichen Morde, wo starke Gefühle zu groben Fehlern führten. Außerdem fehlte den meisten schauspielerisches Talent und so verrieten sie sich und zusammen mit den faustgroben Fehlern waren sie bald überführt.

      Max tränkte den Zipfel seines Taschentuchs mit heißem Wasser und rubbelte auf seinem Hemd herum. Mindestens einmal am Tag wiederholte sich dieser Vorgang. Es gab allerdings auch Tage, an denen er dreimal rubbeln musste. Wenn Berger unter hohem Druck ermittelte, weil ein Mord den nächsten Mord ablöste, dann nahm die Rubbelrate erheblich zu, denn Max löffelte Joghurts, wenn er nicht weiterwusste. Solange der Joghurt auf das Hemd tropfte, war die Welt noch einigermaßen in Ordnung. Es gab jedoch Tage, an denen er im Zentrum seiner Männlichkeit rubbeln musste. Schlimm! Schlimmer jedoch waren die Tage, an denen er seine Wildlederschuhe mit dem Kleister befleckte.

      Verwandet waren schnell überführt, intelligente Verrückte hingegen machten Max kirre, beschädigten sein hochtrainiertes Talent sofort zu spüren, wenn etwas an den Erzählungen der Verdächtigen nicht stimmte. Wie aber sollte er Erzählungen auf ihren Wahrheitsgehalt abklopfen, wenn es keine Erzählungen gab, weil es keine Verdächtigen gab, die etwas erzählten? Bisher gab keinen Hinweis, mit dem er etwas anfangen konnte. Von ihrem Beruf einmal abgesehen, hatten die Opfer nichts gemeinsam, keine gleichen Bekannten, ja, nicht einmal einen ähnlichen Werdegang. Wo sollte er anknüpfen? Der Mörder hatte möglicherweise einen pathologischen Hass auf Lehrer, aber wer hatte den nicht?

      Max Berger war keine Existenz ohne Hintergedanken. Also hütete er seine Gedanken, denn er wollte sich nicht an der Vervielfältigung des Geschwätzes beteiligen. Er liebte lakonisches