Man hätte es nicht vermutet, aber er hieß willkommen, was ihm die Computertechnik bescherte. In einer Datenbank hielt er die kleinen und die großen Straftaten der missratenen Brut fest. Alles war miteinander verlinkt. Gab er einen Namen ein, fand er die Unterrichtsstörungen des Delinquenten: das Briefchenschreiben, das Knibbeln einer SMS unter der Bank, die fehlende Hausaufgabe, das Zuspätkommen oder besonders schlimm, das ironische Zustillsitzen. Tippte er einen Verstoß in die Suchleiste der Datenbank, fand er die dazugehörigen 153 Schüler, verteilt über einen Zeitraum von vier Jahren. Niemals zuvor hatte es eine Zeit gegeben, in der die Datenverwaltung einfacher gewesen wäre und nie einfacher den überraschten Schülern am Ende des Schuljahres ihre Missetaten minutiös aufzulisten und mit ihnen abzurechnen. Auf diese Weise abzurechen, da es nicht mehr möglich war, sie zu prügeln, bis die Schwarte knackte.
Zollkappe verachtete nicht nur die Welt, er hasste auch sich selbst. Auf seinem Hosenboden brannte Dominiques Schlagfertigkeit, auch ein Zeugnis, Zeugnis einer misslungenen Erziehung. Seine Besuche des obersten Stockwerks in der Rathenaustraße boten ihm regelmäßig Zuflucht ins ganz Andere, flüchtige Befreiung aus seiner Welt des johlenden Stumpfsinns.
Ohne jeden Zweifel leistete Dominique vorzügliche Arbeit. Ja, von dem Moment an, als sie erfahren hatte, dass Zollkappe Lehrer war, hatte sie eine Begeisterung an den Tag gelegt, die exzessiv war, weiß der Teufel. Nach seinen Abstechern bei Dominique spürte Joachim noch Stunden später, die Kehrseite des ekstatischen Übermuts: Er konnte sich nicht hinsetzen. Und weshalb behandelte Dominique ihn so außerordentlich gewissenhaft? Auch sie war einmal Schülerin gewesen. „Ich bin kein Faulpelz, den man klopfen muss“, sagte sie und jagte Joachim weitere dreißig Zentimeter die Wand der Ekstase höher hinauf.
Nach seinem wöchentlichen Besuch bei Dominique arbeitete Joachim Zollkappe später als gewöhnlich. Er korrigierte Abiturklausuren und stöhnte immer wieder auf, während er auf dem Stuhl herumrutschte, um mal die linke, mal die rechte Backe zu entlasten.
Bei jedem Satz, den er korrigierte, merkte er, wie sein Hirn schrumpfte. Das Hirn war ein sich veränderndes Gebilde und Neuronen, die gemeinsam feuerten, verknüpften und vernetzten sich. Blödsinn macht blödsinnig. Er lehnte sich für einen Moment zurück und versuchte einen geistreichen Gedanken zu denken. Könnte mal wieder Pflaumenmus zum Frühstück essen. Ein neuer Versuch. Das Leben ist hundert Mal zu kurz, diesen Schwachsinn zu lesen. Immerhin, das war der Anfang eines ausbaufähigen Gedankens. Und er würde danach handeln. Hatte er sich lange genug geplagt, um sich einen Blick aus dem Fenster zu gönnen? Scheiß was drauf, sagte nicht nur sein Kopf, sondern auch sein Allerwertester und also erhob er sich und machte das Fenster auf.
Tief atmete er die Nachtluft ein, schaute in die funkelnde Stadtlandschaft und lächelte ein letztes Mal in seinem Leben.
Fünfzehn
„Wieder ein Lehrer?“, fragte Horst.
„Geschichtslehrer vom Westfalen-Kolleg.“
„Und was steht im Brief?“
„Woher weißt du, dass es einen Brief gab?“, fragte Max.
„Nenn es Weisheit, nenn es Intuition, es gibt doch einen, oder?“
„Ja.“
„Und, was steht drin?“
„Hör gut zu, ist ein sprachliches Kunstwerk: Betrachte die Herde, die an dir vorüber weidet: sie weiß nicht, was Gestern, was Heute ist, springt umher, frisst, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tage zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblicks, und deshalb weder schwermütig noch überdrüssig. Der Mensch hingegen stemmt sich gegen die große und immer größere Last des Vergangenen: Diese drückt ihn nieder oder beugt ihn seitwärts, diese beschwert seinen Gang als eine unsichtbare und dunkle Bürde.
Es gibt einen Grad von historischem Sinne, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt und zuletzt zugrunde geht, sei es nun ein Mensch oder ein Volk oder eine Kultur.“
„Klugscheißer“, sagte Horst Krock.
„Nein, Philosoph, Nietzsche“, sagte Max.
„Hast du gegoogelt?“, fragte Krock.
„Was man weiß, was man wissen sollte“, sagte Max. „Ist aus einem Aufsatz von Nietzsche, kennst du nicht?“
„Was war das für ein Pauker?“
„Geschichtslehrer.“
„Deswegen der Text vom Nietzsche. War der nicht auch toll am Ende? Woher habt ihr den Brief?“
„War um einen Stein gewickelt, lag in Zollkappes Zimmer.“
„Und wie ist er ermordet worden?“
„Mit einer Armbrust, wir vermuten mit einer Armbrust. Jedenfalls steckte ein Armbrustbolzen in seiner Stirn.“
„Also geübter Schütze, man muss damit umgehen können.“
„Nee, die gibt es heute so perfektioniert, damit triffst du aus kurzer Entfernung so gut wie mit einem Gewehr. Nicht viel Übung nötig.“
„Und sonst?“
„Derselbe Drucker oder zumindest dieselbe Marke wie vorher. Der Ermordete hatte sich offenbar für die Stelle des Schulleiters beworben. Muss nichts bedeuten. Drei Lehrer also“, sagte Max.
„Wann ist er gefunden worden?“
„Vor einer Stunde“, sagte Max. „Offenbar hat er noch spät gearbeitet. Am Nachmittag hatte er wohl ein Dienstgespräch. Seine Frau hat ihn gefunden.“
„Erwarte nicht, dass ich darüber nicht berichte“, sagte Horst.
„Will ich auch gar nicht. Soll jede erdenkliche Publizität kriegen. Nur so können wir hoffen, dass sich jemand meldet, der was mitbekommen hat.“
Sechzehn
Gegen seine Gewohnheit hörte Horst Krock sich seine Reportage noch einmal an. Gute Arbeit machte eben zufrieden.
Vorspann.
Ein weiterer Paderborner Lehrer wurde ermordet aufgefunden, der dritte innerhalb von sechs Wochen. Der Tote wurde abends gegen elf Uhr im Arbeitszimmer von seiner Frau gefunden. Vom Tatort berichtet unser Reporter Horst Krock.
Krock
Der siebenundvierzigjährige Lehrer Joachim Zollkappe lag auf dem Rücken in seinem Arbeitszimmer vor dem geöffneten Fenster. Wenngleich der Fall ein paar ungewöhnliche Merkmale aufweist, ist die Polizei sicher, dass es sich um den mordenden Wahnsinnigen handelt, der schon zwei Paderborner Lehrer umgebracht hat. Herr Berger, was können Sie zum Mord sagen?
Max
Es gibt eindeutige Verbindungen zwischen diesem Mord und den vorangegangenen. Wir sind jetzt davon überzeugt, dass ein Psychopath sich selbst auf die Menschheit losgelassen hat mit einem Groll auf Lehrer. Wir empfehlen allen Lehrern auf der Hut zu sein und nicht nur die Paderborner. Und wir bitten jeden, der letzte Nacht zwischen neun Uhr und Mitternacht in der Nähe der Greiteler Gärten 25 war, sich bei der Polizei zu melden, auch wenn Sie meinen, nichts bemerkt zu haben.
Krock
Die Polizei hat schon damit begonnen Bürger zu befragen, aber noch gibt es keine brauchbaren Beweise. Sicher scheint nur, dass es sich immer um den gleichen Täter handelt. Wie Kommissar Berger mir versichert