Im Obergeschoss lebte, wenn man der Postkarte über der Türschelle glauben schenkte, ein Modell. War der Glaube an Worte eine zu windige Sache und fühlte man sich eher dem Fühlen zugeneigt, dem was die Sinne boten, dann stieg man Stufen hinauf und erblickte an der Tür ein Schild mit den Lockworten: „Dominique gibt einsamen und ehrerbietigen Männern Zucker, bis sie die Wände der Ekstase erklimmen.“
Die Reform-Partei steckte im Stockwerk dazwischen. An diesem Morgen war das Hauptquartier der Partei mit dem Landesvorsitzenden gesegnet. Hätte man Gero Creme-Peierstorf, MdL, gefragt, warum er es bei der letzten Wahl zum MdL gebracht habe, dann hätte er die Augenbrauen erstaunt auf die Stirn gezogen und wahrscheinlich gesagt, in der reformbedürftigen Bundesrepublik sei es ja wohl kein Wunder, dass der Vorsitzende der Reform-Partei in den Landtag gewählt worden sei. Was denn so reformbedürftig sei? Alles hätte er gesagt: die Wirtschaftsordnung, das Finanzwesen, das Wurstwesen, das Rechtswesen, die Gastronomie, die Bundeswehr, die Bundesliga und natürlich das Bildungswesen, insbesondere das Bildungswesen sei reformbedürftig in Permanenz.
Vielleicht hätte er auch auf die Frage, wie er MdL geworden sei, so simpel beantwortet, wie sie zu beantworten war. Oder er hätte Howard Hughes zitieren können. Als der nämlich gefragt wurde, warum er als langnageliger Einsiedler in einem versiegelten Hotelzimmer auf den Schnitter mit der Sense warte, habe Hughes mit größter Offenheit gekräht: „I just sort of drifted into it.“ Im Übrigen war das fast immer die richtige Antwort auf alles, war also auch die angemessene Auskunft auf die Frage, wieso Creme-Peierstorf es zum MdL gebracht habe. „He sort of drifted into it.“ Zwei Faktoren hatten den Ausschlag gegeben: Seine Wähler hatten mit ihm Mitleid und außerdem komplett ihren Verstand verloren. Und lieber Leser, mal ehrlich, bist du nicht auch in ganz vieles einfach nur hineingeschlittert? Schlitterst du nicht gerade? Mal ehrlich! Schlittern wir nicht immerzu?
Jemand wie Creme-Peierstorf, der so unglaublich untauglich war für jeden anständigen Job außerhalb der Politik, hatte beim politischen Schieben und Schummeln ein weites Feld um seine Defizite zu kaschieren, nun da er es in den Landtag geschafft hatte. Creme-Peierstorf machte es wie die meisten Politiker heutzutage, er engagierte einen Reden- und Sprücheschreiber. Seiner hieß Guido und Creme-Peierstorf legte Wert darauf, niemals ein politisches Wort zu äußern, das Guido nicht für ihn erklügelt hatte. Es kam also darauf an, nur genau das vorzulesen, was Guido für ihn entworfen hatte, ohne auch nur ein Komma zu verändern.
Guidos Anheuerung war genauso ein Zufall gewesen wie die Wahl Creme-Peiersorfs. Ganz ohne Zweifel war Guido clever, aber zugleich erfüllte er das Klischee des intellektuellen Eierkopfes auf eine so idealtypische Weise, als hätte er für alle anderen das Vorbild abgegeben. Natürlich war er nicht in der Lage eine Sardinenbüchse zu öffnen und bevorzugte Slipper mit flachen Absätzen. Doch vermutlich waren es böse Zungen, die das Gerücht in die Welt gesetzt hatten, er könne sich nicht einmal selbst die Schuhe schnüren. Guido beizubringen eine Dose mit Schuhcreme zu öffnen, habe sein Vater schließlich aufgegeben. Vergebliche Liebesmüh.
Nein, ein motorisches Genie war Guido sicherlich nicht, aber klug sah er aus, was fast schon die halbe Miete war. Allerdings wirkte er auch ein wenig schluderig, nicht zu sehr, denn er soll uns ja sympathisch bleiben. Und Klugheit und Schludrigkeit, wer denkt da nicht sofort an Einstein? Damit soll natürlich auch nicht gesagt sein, dass Schlampigkeit der Genialität auf die Sprünge hilft, nein, das auch nicht.
Klein war Guido und klapperig, der mächtige Kopf auf hängenden Schultern und viel zu wuchtig die Brille auf seiner Nase. Seine welligen Borsten widerstanden jedem bändigenden Kämmversuch. Wie man einen Schlips band, würde ihm für immer ein Geheimnis bleiben und seine Bemühungen Hemden zu bügeln, waren so verheerend gewesen, dass er von dem heißen Bemühen inzwischen vollkommen Abstand genommen hatte. Kein halbwegs vernünftig denkender Mensch hätte Guido engagiert, weshalb er sich wahrscheinlich bei der Reform-Partei beworben hatte. Selbst dort wäre er vermutlich nicht erfolgreich gewesen, hätte er vor dem Gespräch nicht ein paar Gläser perlenden Mutes getrunken und wäre die Flüssigkeit nicht just in der Mitte der Befragung dort angekommen, wo alle Flüssigkeit früher oder später ankommt. Seine gut gefüllte Blase drückte ihren Wunsch nach Erleichterung mit solchem Druck aus, dass sein gesamter Kopf mit dem Gedanken ausgefüllt war: eine Toilette, ein Königreich für eine Toilettenschüssel. Von Creme-Peierstorf nach seiner Einschätzung gefragt, woran es liegen möge, dass die Unterstützung der Partei einem versiegenden Rinnsal gleiche, erklärte Guido, dass alles jeden Augenblick zu einem breiten Strom anschwellen könne. Die Worte äußerte er mit solch flüssiger Überzeugungskraft, dass er auf der Stelle engagiert wurde, aber noch beim Handschlag sich zur Tür drehte und für die Dauer einer Pinkellänge verschwand.
Bis auf einem Gebiet war Guido fast auf allen anderen ein ahnungsloser Esel, aber er konnte Reden schreiben, eingängig wie ölfarbige Harfenklänge. Und so wurde eine große Partnerschaft geboren zwischen Guido dem Hirn und Creme-Peierstorf dem Maul.
Eine Woche später war Creme-Peierstorf nicht konzentriert bei der Sache, wurde abgelenkt, nicht von seiner Blase, die so durchtrainiert war, dass er darin locker zehn Liter unterbringen konnte. Er vernahm Zischgeräusche von oben, wo ein jammernder Klient offenbar übermenschliche Kraft aufbot, um die Wände der Ekstase zu erklimmen. Von unten dröhnten die musikalischen Versuche von Holterdiepolter, dass Creme-Peiersdorf vibrierte und sein Fett Wellen warf.
Wie, ich nicht mehr saufen,
Das Dope nur noch verkaufen?
Hab’ Glück, nie versprochen,
Komm’ nicht wieder angekrochen.
Inmitten der kakofonen Orgie, grölende Gitarren von unten und wimmernder Wahn von oben, war eine politische Diskussion auf höchstem Niveau im Gange.
„Was?“
„Ich sagte Lehrer.“
„Ich verstehe kein Wort!“
„Ich meinte, wir könnten was aus den Lehrermorden machen.“
„Welche Lehrermorde?“
Creme-Peierstorf las niemals die Zeitungen - schließlich - wofür bezahlte er Guido? Eine kurze Flaute im entsetzlichen Lärm nutzte Guido, um Creme-Peierstorf übers Nötigste zu unterrichten.
„Schauen Sie“, erklärte er, „im letzten Monat wurden zwei Lehrer ermordet. Die Polizei lässt verlauten, dass die Taten zusammenhängen. Ich schätze, das könnte ein wichtiger politischer Ansatzpunkt sein.“
„Großer Gott, das können die Morde?“
Aus aktuellen Ereignissen politischen Gewinn zu schlagen, das war nicht die starke Seite Creme-Peierstorfs.
„Also, wie wirkt dies?“ Guido las ein Stück der Rede vor, die Creme-Peierstorf halten sollte.
„Jene Lehrer wurden nicht als Individuen ermordet, sondern als ahnungslose Vertreter des reformbedürftigen deutschen Bildungswesens. Es war nicht ihre Schuld; sie waren die unglückseligen, aber unmittelbarsten und sichtbarsten Symbole eines überholten Systems, das erneuert werden muss, das dringend überholt, ja, auf den Kopf gestellt werden muss, damit es nicht zu weiteren tragischen Opfern kommt. Und,“ fragte Guido, „kommt das an? Nun, kommt das an?“
Es kam an, endlich, denn Creme-Peierstorf war nicht von zügiger Auffassungsgabe, aber selbst er konnte einen politischen Dolch erkennen, wenn er einen sah.
„Das ist sehr gut Guido. Sehr gut. Gefällt mir, gefällt mir über die Maßen.“
„Davon gibt es noch eine ganze Menge. Wir können diese Morde benutzen, um die Regierung abzuschlachten. Natürlich verdammen wir die Morde an sich. Soll ja nicht so aussehen, als würden wir den Akt klammheimlich billigen.“
„Natürlich nicht! Auch wenn es Lehrer sind.“
„Aber sobald wir das gemacht haben, können wir diese Sache mit den ahnungslosen Vertretern des Bildungssystems lancieren. Das haut sie um.“
„Sehr vielversprechend“, sagte Creme-Peierstorf, „eine deiner besten Ideen. Ich bin zum Lunch im Balthasar verabredet. Oder war es