Deswegen war es eine so angenehme Überraschung, als sie Prakash traf. Gerade aus Poona zurück, den Schock noch in den Knochen, dass Bhagwan so plötzlich aufgebrochen war nach Oregon, dass sich ihre Wahlheimat, der Ashram, plötzlich in Luft auflöste, heuerte sie in Köln-Merheim an, um das letzte Semester ihrer Wartezeit zu überbrücken. Köln war die Hochburg der Sannyasins in Deutschland und das Belgische Viertel in den frühen Achtzigern beinahe ebenso orange wie Koregaon Park. Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, ließ der Chefarzt sie böse auflaufen, als sie am ersten Tag ihres Dienstes mit roten Klamotten unterm weißen Kittel ankam (dass sie ohne diesen Kittel nicht als Krankenschwester arbeiten konnte, hatte sie zähneknirschend eingesehen, doch bereitete ihr das Weiß fast physisches Unbehagen, wenn sie in den Spiegel schaute).
Der Chef, seine Visite zelebrierend, war schon fast an ihr vorbeigerauscht, doch er musste aus den Augenwinkeln etwas Rotes gesehen haben. Er machte kehrt, lief direkt auf sie zu, sah auf ihr Namensschild, auf dem Schwester Sharani stand, und stach mit dem Zeigefinger zu. „In vierzig Minuten sind Sie in meinem Büro!“, knurrte er und war schon wieder fort, mitsamt seinem Tross verschwunden im nächsten Krankenzimmer. Sieglinde, die neue Kollegin, rollte mit den Augen. „Ich hab’s dir ja gesagt“, flüsterte sie. „Das mit deinem Bhagwan kommt hier nicht gut!“ Sharani zuckte die Achseln. „Das werden wir ja sehen“, meinte sie gleichgültig und ging ihrer Wege.
Trotzdem stand sie genau achtunddreißig Minuten später vor dem Chefarztbüro. Die Sekretärin musterte sie strafenden Blicks von Kopf bis Fuß und ließ sie zwei Minuten warten, bevor sie Sharani über die Gegensprechanlage beim Chef meldete. Der saß hinter seinem riesigen Schreibtisch, die Hände auf der ledernen Schreibunterlage gefaltet, und musterte sie ebenfalls, ohne ein Wort zu sagen. Dann stand er umständlich auf und kam um den Schreibtisch herum auf sie zu. Sharani schaute ihm voll ins Gesicht. Bange machen gilt nicht! Doch der Chef schaute an ihr vorbei, mit leidender Miene, als hätte er Zahnweh.
„In Ihrer Akte“, begann er schließlich, „sehe ich, dass Sie Katharina heißen. Schöner Name, wirklich. Schade darum. Aber gut, wenn Sie mit so einem albernen indischen Juxnamen auf der Brust herumlaufen wollen“ – er schob die Brille in die Stirn, beugte sich übertrieben zu ihr herab und buchstabierte: „Schwester Shar-ra-ni“, schüttelte den Kopf und seufzte. „Wenn Sie also mit diesem Namen herumlaufen wollen, ist das Ihre Sache. Die Patienten werden es überleben.“ Sharani versuchte so gleichmütig wie möglich zu bleiben, auch wenn es irgendwo tief in ihr kochte. Atmen, in die Füße spüren, hier sein.
Wieder stach der Zeigefinger zu. „Aber eins möchte ich klarstellen, und zwar unmissverständlich. Alle Schwestern – alle Schwestern in diesem Krankenhaus tragen weiß. Weiß. Und zwar auch unter dem Kittel. Sie können eine Hose anhaben oder ein Kleid; das ist mir egal. Aber die Hose ist weiß, der Rock ist weiß, die Bluse ist weiß, die Socken sind weiß. Weiß. Das ist die Farbe dieses Krankenhauses und aller Krankenhäuser in diesem Land. Wir sind hier nicht in Kalkutta.“ Er machte eine kleine Pause, seine Augen funkelten sie an. Endlich schaut er mir mal in die Augen! „Ich denke, wir verstehen uns, Schwester – wie war das? Schwester Schalami.“
Sharani seufzte innerlich. Der Typ mag Chefarzt sein, menschlich ist er eine Niete. Gerade dass er nicht Salami sagt. Ergeben nickte sie und sagte: „Ja, Herr Professor.“ Sie wusste, es hatte keinen Sinn, mit ihm zu streiten. Vorbei an der Sekretärin, die sie bemüht ignorierte, verließ sie das Büro und stieß fast mit einem jungen Arzt zusammen, der gerade um die Ecke geschossen kam.
„Hoppla!“, entfuhr es beiden synchron.
„Jetzt dürfen wir uns was wünschen!“ Der Fremde hatte ein sympathisches Lachen. Dann sah er sie an. „Neu hier?“
Sharani nickte und blickte ihm in die Augen. Blau. Dieses seltene Dunkelblau. Es bildete einen seltsamen Kontrast zu seinem schwarzen Haar, das knapp über die Ohren reichte, und dem akkurat gestutzten Vollbart. Fast kobaltblau. Sie wollte schon weitergehen, da hielt er sie am Ärmel fest. „Darf ich?“ fragte er und beugte sich zu ihrem Namensschild wie vorhin der Professor. „Sharani“, las er. „So, so.“ Sein Grinsen war schon beinahe unverschämt. „Gehe ich recht in der Annahme, dass das nicht der Name ist, den dir deine Eltern gegeben haben?“ Sie hatte nichts dagegen, wenn Fremde sie duzten, aber hier im Krankenhaus schien das doch gegen die Etikette zu sein. Sie nickte. „Da gehen Sie recht.“ Bei seinem breiten Lächeln dämmerte ihr etwas, und richtig: „Ich bin Prakash“, sagte der fremde junge Arzt – Dr. Walter P. Hofmann las sie auf seinem Namensschild. P wie Prakash, nicht wie Paul oder Philipp.
Ihm schien einzufallen, dass er es eilig hatte. „Ich muss weiter“, sagte er und wandte sich zum Gehen. Doch dann hielt er noch einmal inne. „Vielleicht sieht man sich nachher in der Kantine?“ Die Aussicht, einen Sannyasin-Bruder in der Klinik zu haben, erleichterte sie so sehr, dass sie spontan zusagte. „Ich glaube, um eins kann ich Pause machen.“ Prakash winkte und eilte davon. „Um eins“, rief er über die Schulter zurück. Erst als er um die nächste Ecke gebogen war, fiel ihr auf, dass er unter dem offenen Kittel ein blütenweißes Poloshirt und eine weiße Hose trug. Und keine Spur von seiner Mala.
***
Prakash kam erst um viertel nach eins, da hatte Sharani fast schon aufgegessen. Es war gar nicht so einfach, in dieser Kantine etwas Vernünftiges zu essen zu kriegen. Sauerbraten, Kalbsgeschnetzeltes, Buletten, Würstchen… Irgendwas, wofür kein Tier sterben musste? Sharani nahm sich einen gemischten Salat und ließ sich bei den Hauptspeisen eine Portion Gemüse mit Kartoffeln geben. Dafür nahm sie sich zwei Quarkspeisen als Nachtisch.
Auch Prakash hatte einen Gemüseteller und dazu zwei Salate. Er stellte das Tablett auf dem Tisch ab und setzte sich Sharani gegenüber. „Ist heute dein erster Tag?“, fragte er ohne Umschweife. Sharani nickte kauend, legte dann die Gabel zur Seite. „Und schon hat der Chef dich erwischt. Gemein.“ Die Augen lachten, während der Mund sich beileidsvoll krümmte.
Sharani holte Luft. „Das ist doch wirklich oberkacke, diese Ideologie, dass man nur Weiß tragen darf. Wie soll ich das denn machen? Wen stört das denn, wenn ich unter dem Kittel orange oder rote Klamotten anhabe?“
„Den Chef stört’s“, sagte Prakash gelassen. „Und der Chef hat hier das Sagen.“
„Aber als Sannyasin bin ich doch verpflichtet, Farben des Lebens zu tragen. Ich finde es schon schlimm genug, dass ich dieses Leichenhemd als Uniform anziehen muss, aber drunter… Ich habe gar keine weißen Hosen oder T-Shirts.“
„Du bist verpflichtet? Wer sagt das?“ Prakashs tiefblaue Augen bohrten sich in die ihren.
„Na, Bhagwan sagt das. Das müsstest du doch eigentlich wissen!“
Prakash wurde ernst. „Meines Wissens sagt Bhagwan vor allem, dass wir frei sind. Dass wir uns von irgendwelchen Bevormundungen frei machen sollen. Dass wir selbst entscheiden sollen.“
„Eben.“ Sie verstand ihn nicht. „Und trotzdem fügst du dich dieser hirnrissigen Vorschrift.“
Prakash legte ebenfalls die Gabel neben den Teller. Sah sie an. „Sharani“, sagte er ernst. „Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass die Ermunterung, sich von Bevormundung freizumachen, sich auch auf Bhagwans eigene Vorschriften beziehen könnte?“
Ihr blieb der Mund offen stehen. Langsam schüttelte sie den Kopf. „Was sagst du da!“
„Schau, Bhagwan sagt immer wieder, er lehrt keine Religion, er hat keine Dogmen, wir sind frei – also sind wir auch frei von dem, was er uns sagt. Er ist wie ein Fahrzeug. Es bringt dich irgendwohin, und wenn du angekommen bist, steigst du aus und brauchst das Fahrzeug nicht mehr. Entscheidend ist doch, dass du den Weg zurückgelegt hast und nun da bist, wo er dich hinbringen wollte.“
Das klang einleuchtend und doch war es irgendwie revolutionär. Ketzerisch.
Ketzerisch?
Wie