Das Telefon klingelte. Lakshmi, sicherlich. Lakshmi, die Freundin, Kollegin, die sie im PJ kennen gelernt hatte, Lakshmi damals schon Oberärztin, sie die Anfängerin. Lakshmi, die jetzt wieder Eva-Maria Haimhauser hieß, aber für Katharina blieb sie Lakshmi. Lakshmi, mit der sie sich die Praxis teilte. Und die natürlich darauf brannte zu erfahren, was bei der Untersuchung herausgekommen war.
„Warum meldest du dich nicht! Ich komme um vor Angst!“
Lakshmis Stimme riss sie zurück ins wirkliche Leben. Sie hörte sich sagen: „Sieht nicht besonders toll aus. Es ist tatsächlich ein Magen-CA. G3. Hühnereigroß.“
Lakshmi sparte sich jeden Kommentar, sagte nur: „Ich komme vorbei“ und legte auf.
Plötzlich spürte Katharina eine große Schwäche. Sollte sie das Ganze wirklich auf sich nehmen? Sich operieren lassen, den therapeutischen Giftcocktail nehmen, Haarausfall, Übelkeit, Schwäche, Entzündungen, das ganze Geschiss… War es nicht besser, einfach stillzuhalten und zu warten, bis es vorüber war? Sie ließ sich aufs Sofa fallen. Auf das Sofa, das sie zusammen mit Achim angeschafft hatte.
Woher kam diese Gleichgültigkeit? Oder besser: dieses Desinteresse an der Frage, ob sie leben oder sterben würde? Bisher hatte sie immer gern gelebt, die Frage nach dem Warum und Wozu sich schon lange nicht mehr gestellt. Sie lebte, und das war gut so.
Und auf einmal schien es egal. Nicht dass sie sterben wollte, gar aktiv etwas dazu hätte unternehmen wollen. Aber es erschien ihr unerheblich, ob sie noch Wochen vor sich hatte oder Jahrzehnte. Sie versuchte dieser Haltung nachzuspüren. Es war nicht Gleichgültigkeit, es war etwas anderes. Es fühlte sich eher an wie ein tiefes Vertrauen, dass es seine Richtigkeit haben würde, egal wie es kam. Sie konnte es nehmen, wie es war. Sharani – Hingabe an die Existenz, in welcher Form auch immer.
Die Türglocke. So schnell? Sie sah auf die Uhr. Seit ihrem Telefonat mit Lakshmi war eine gute halbe Stunde vergangen. Wo ist die Zeit geblieben? Katharina stand auf, drückte den Türöffner. Kurz darauf stürmte Lakshmi herein, riss sie an die Brust. „Was machst du für Sachen, Mädchen!“
Auf einmal konnte sie weinen. Eigentlich gab es keinen Grund, die Tränen kamen einfach. Sie fühlte sich nicht traurig, verzweifelt schon gar nicht. Nur müde war sie, unendlich müde.
„Wenn ich sterben muss, sterbe ich.“
Lakshmi strich ihr übers Haar. „Wer spricht denn hier vom Sterben? Du hast einen Tumor, okay. Das ist blöd. Der Tumor wird rausgeholt, du kriegst wahrscheinlich eine Chemo, da hängst du ein halbes Jahr in den Seilen, und dann ist es wieder in Ordnung.“ Sie schien, erstaunlich genug, nicht zu begreifen, was sich in Katharina abspielte. Aber Katharina begriff es ja selbst nicht so recht.
„Es ist doch völlig egal, ob es in Ordnung kommt.“
Lakshmi schob sie von sich, sah ihr ins Gesicht.
„Wie bitte?“ Auf einmal schien sie ehrlich verärgert. „Das sagst du? Als Ärztin? Du sagst, es ist egal, ob es in Ordnung kommt? Ob du lebst oder nicht? Sagst du das deinen Patienten auch?“
Katharina zuckte nur die Schultern, wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Es gab tatsächlich keinen Grund zu weinen, weshalb dann die Tränen! „Es ist doch sowieso alles nur Maya. Illusion. Dieses ganze Leben.“
Lakshmi sah ihr fest in die Augen. Ihr Ton war grob, aber Katharina kannte sie gut genug, um die Zärtlichkeit und Sorge hinter dem rüden Tonfall zu hören. „Pass mal auf, meine Liebe! Du haust mir jetzt nicht in die Depression ab! Du brauchst deine Kraft, um wieder gesund zu werden, da erlaube ich dir so einen Quatsch einfach nicht!“
Katharina erwiderte den Blick, konnte nichts sagen. Was auch!
Lakshmi hakte sie unter und führte sie ins Wohnzimmer. „Jetzt setz dich erst mal!“ Sie ging in die Küche, Katharina hörte sie eine Weile rumoren. Wie eine Marionette mir gekappten Fäden hing sie auf dem Sofa. Was war nur los mit ihr!
Waren es drei Minuten, war es eine Stunde? Irgendwann stand Lakshmi wieder vor ihr, eine Tasse mit einer dampfenden Flüssigkeit in der Hand. Es roch nach Zimt und Ingwer.
Sie nahm einen Schluck von dem heißen, süßen Chai. Lakshmi setzte sich ihr gegenüber, schwieg eine Weile, während Katharina ihren Tee schlürfte. Irgendwann ergriff sie wieder das Wort.
„Hör mal, Sharani. Das ist echt Quatsch. Natürlich ist alles Maya. Aber du glaubst doch nicht im Ernst, dass es deswegen unwichtig ist! Es ist doch kein Zufall, dass du das hier alles erlebst! Oder vielleicht gar ein Unfall, ein kosmisches Missverständnis. Nein, auch wenn das alles hier Illusion sein mag und dein wahres Wesen ganz woanders zu Hause ist – dein Platz ist hier, hier, solange du lebst. Und ich möchte, verdammt noch mal, dass das noch eine Weile so geht. Du haust mir nicht einfach ab, hörst du? Ich brauche dich noch, als Freundin und wenn dir das nicht reicht, als Kollegin.“
Dann kam Lakshmi herüber zum Sofa und setzte sich neben sie, legte den Arm um ihre Schulter. „Hörst du? Ich brauch dich noch, und es gibt da draußen eine Menge Leute, die dich auch noch brauchen.“
In Sharanis Kopf war es seltsam leer. Sie hörte die Worte der Freundin wie durch Nebel, aber irgendwie erreichten sie doch ihr Herz. Sie stellte die Tasse ab, lehnte ihren Kopf gegen Lakshmis Schulter. „Okay“, sagte sie. „Dir zuliebe.“
***
Sie ist in einem leeren, von diffusem weißem Licht erfüllten Raum, ohne Wände, ohne Boden. Sie schwebt im Nirgendwo, aber es geht ihr gut. Sie hat keine Schmerzen, genießt die Schwerelosigkeit. Vor ihr wird es noch heller, ein reines Licht, das etwas wie einen Durchgang zu öffnen scheint. Aus diesem Licht bildet sich ein Körper, ein Mensch. Sie erkennt ihn, bevor er noch ganz materialisiert ist. Achim. Er ist es, und er ist es nicht. Es ist, als sei es Achims Essenz. Sein Lächeln, seine Wärme, seine Liebe. Die Sehnsucht schüttelt sie, sie streckt die Arme nach ihm aus. Achim!
Sie kann sich nicht bewegen, kann ihrem Schweben keine Richtung geben. „Achim!“, will sie rufen, aber kein Laut dringt aus ihrer Kehle. Er hält ihr die offene Handfläche entgegen. Komm mir nicht nahe, heißt das. Es ist noch nicht so weit. Hat sie diese Worte gehört? Sie weiß sie einfach.
Er scharfer Schmerz. Sie darf nicht zu ihm.
Er wird wieder durchsichtig. „Achim!“, will sie wieder rufen. Er lächelt wehmütig, winkt mit sich auflösender Hand. Sie muss ihn halten, er darf nicht wieder gehen, nicht wieder. Aber sie ist machtlos. Immer transparenter wird die Gestalt, das Licht immer heller, unerträglich hell.
Er ist fort.
Ihre Wangen waren nass, als sie aufwachte. Achim! Aber sie durfte nicht zu ihm. Noch nicht. Lakshmi hatte Recht. Sie wurde hier noch gebraucht, auch wenn sie im Moment keine Ahnung hatte, von wem und wozu. Sie durfte noch nicht gehen.
***
Wie lange hatte sie allein geschlafen! Seit Achim gestorben war, und das war drei Jahre her, hatte sie ihr Bett nicht mehr geteilt. Aber Lakshmi hatte nicht lange gefragt, hatte nur mitgeteilt, dass sie bleiben würde. Und Katharina war vor Herzen froh darüber. Nun lauschte sie auf das leise Schnarchen der Freundin neben ihr. Die Gedanken wanderten durch die Zeiten, blieben kurz im Klinikum hängen, wo sie Lakshmi kennengelernt hatte, wanderten weiter… Prakash, natürlich, die Erinnerung musste ja kommen, war unvermeidlich, wenn sie an ihre Zeit in der Klinik zurückdachte.
Ihr Abiturschnitt hatte nicht ausgereicht für einen Studienplatz in Humanmedizin. Neun Wartesemester, teilte ihr die ZVS mit. Neun Semester, viereinhalb Jahre. Viele hätten in so einer Situation aufgegeben und sich etwas anderes gesucht. Nicht so Jeannie. Sie hatte es kommen sehen, dass sie warten musste, und sich schon vor dem Abitur bei der Schwesternschule in Würzburg angemeldet, für die dreijährige Ausbildung.