»Haribald, hör auf, dich zu beschweren«, forderte Bechstein. »Du hörst dich schon an wie mein letzter Assistent, der Alfred. Der Weg zu Wissen und Weisheit ist dornig.«
Bechstein gab dem Wirt eine Bestellung für das Abendessen mit, schloss die Tür. Haribald setzte sich prüfend auf sein Bett, sein Meister ging Hände reibend durch das Zimmer. Er hatte sein Barett achtlos auf den Nachttisch geworfen, die grauen Haare hingen ihm wirr um den Kopf. »Herrlich, Haribald, wir kommen voran. Die Hufeisen, die Kreuze an den Türen, die Anschuldigungen. Wunderbar. Oh Jahrhundert, oh Wissenschaften. Es ist eine Lust zu leben. Ich sage dir, bevor wir in Süddeutschland ankommen, werden wir einiges mehr an Gewissheit erlangen. Von hier sind es etwa sechs Meilen zum Gipfel, das sollten wir an einem halben Tag schaffen.«
»Mit einem Pferd, ja«, knurrte Haribald.
»Weißt du, wie viel uns der Gauner für ein neues Pferd abknöpfen wollte? Acht Taler, mein Junge, acht Taler. Für den mageren Klepper. Dieser Halsabschneider.«
Haribald schweifte in Gedanken ab, während der Professor sich über die hohen Reisekosten beschwerte, wünschte sich zurück nach Stettin in sein Atelier, in die Marienstraße.
»Lies bitte erneut die Stelle.« Bechstein setzte sich auf einen Stuhl und ließ sich von Haribald die Schuhe ausziehen.
»Schuhe oder lesen?«
»Erst Schuhe, dann lesen.«
»Ich dachte, ich solle auch den Überzieher putzen.«
»Also bitte, erst putzen, dann lesen.«
»Und sollte ich nicht nach einem Pferd fragen?«
»Also gut, erst ausziehen, dann den Überzieher putzen, dann nach einem Pferd fragen und dann lesen.«
»Lesen, bevor oder nachdem der Wirt das Bier gebracht hat?«
»Herrgott, Haribald, willst du bei mir was lernen, musst du auch was lesen. Du kannst dich nicht immer davor drücken. Denke daran, meine Junge: Du kannst zum Tier entarten; aber du kannst dich ebenso aus dem freien Willen deines Geistes zum gottähnlichen Wesen wiedergebären. Und der Weg dahin ist die Bildung.«
Der Professor stützte sich mit einem Fuß auf die Schulter seines Adlatus, und zog den anderen Fuß aus dem Schuh. Haribald begleitete mit einem missmutigen Gesicht die Schimpftiraden des Alten, der nach dem Buch auf dem Nachttisch griff und begann, darin herumzublättern.
»Hast du deine letzte Lektion über die Schädelhälften gelernt? Ja? Nun, dann können wir heute ein neues Kapitel aufschlagen. Etwas, das zu unserer Aufgabe passt. Also. Laut Institoris und Sprenger gibt es dreierlei Arten. Die eine... na, wie hieß Institoris mit bürgerlichem Namen, Haribald, wie hieß er?«
»Heinrich Krämer«, sagte Haribald, öffnete seinen Tabaksbeutel und zog die Membran mit spitzen Fingern aus dem Tabaksbeutel. Er brauchte Wasser. Warmes Wasser und Seife. Gab es etwas Gutes, das Haribald über seinen Lehrer sagen konnte, so war es dieser fast dogmatische Glauben an Seife, ein Werkzeug der Körperhygiene, das viele Ärzte als Ursache für Krankheiten verteufelten, da es den Körper erst für Erreger öffnete. Was auch immer daran war – nichts machte den Überzieher sauberer als dieses Stück Kernseife, das Bechstein von einem Barbier in Stettin bezog.
»Richtig, gut, also, dreierlei Arten. Einige bezaubern, lösen aber den Zauber wieder auf, andere beschädigen, ohne wieder zu entzaubern, und einige können nur entzaubern... Was ist, warum putzt du nicht?«
Haribald war in der Mitte des Zimmers stehen geblieben und lauschte. Es war totenstill.
»Hört Ihr das, Professor?«
»Was soll ich hören?«
»Nichts.«
»Ja, das höre ich.«
»Ist das nicht schön?«
»Haribald, manchmal frage ich mich, ob du ganz bei Sinnen bist.«
Kopfschüttelnd schlug der Professor eine andere Seite auf, die er sogleich vorzulesen begann, während Haribald auf die Membran starrte, die von seinen Körpersäften und denen der Bäuerin verklebt war und unangenehm roch.
»Laut der Theorie Aliboris, und das solltest du dir gut einprägen, hat der alte Brauch, in der Nacht vom 30. April auf den ersten Mai unerträgliche Musik zu spielen, den tatsächlichen Effekt, sie sichtbar zu machen. Hören sie also diese Musik, verlieren sie das zur Schau getragene Gesicht und zeigen ihr wahres Selbst, ob sie wollen oder nicht...oder nicht. Was ist? Du putzt ja immer noch nicht.«
Haribald hielt den Überzieher angewidert in der Hand, sah zum Fenster. »Hört Ihr das?« Der Professor verstummte und lauschte.
»Nein, ich höre wieder nichts. Du lenkst ab, Haribald.«
»Zu schön«, sagte Haribald und holte den in einem Leinenbeutel steckenden, unförmigen Klumpen Seife aus der großen Reisetasche des Professors. »Zu schön.«
»Langsam denke ich, du willst mir gar nicht zuhören.«
Schulterzuckend stellte sich Haribald in die Mitte des Zimmers, Bechstein schlug eine neue Seite auf. »...treffen sie sich auf dem Brocken, um ihrem Meister zu huldigen, sich zu vergnügen, zu treffen, Rezepte auszutauschen, zu feiern... Rezepte austauschen? Was ist denn das? Wer hat das geschrieben? Rezepte, Haribald, hast du wieder in meinem Buch herumgeschmiert? Haribald!«
»Ich brauche Wasser.«
»Dann geh zum Wirt und hol dir welches. Aber lass den Überzieher hier. Ich will kein Aufsehen erregen.«
Der Wirt schickte ihn zur rothaarigen Magd, die sich als Philippa vorstellte und ihn mit tief ausgeschnittenem Hemd zur Herdstelle im hinteren Teil der Küche begleitete. Dort füllte sie aus einem Bottich frisches Wasser einen kleinen Kessel, den sie an einem Haken über die offene Flamme hängte.
»Wofür brauchst du das?«, fragte die Magd.
»Zum Waschen.«
»Du wäscht dich? Aber das ist doch ungesund.«
»Mein Meister ist da anderer Meinung.«
Die Magd, rothaarig, mager und nicht viel älter als Haribald, blickte verschwörerisch über die Schulter, bevor sie ihr Gesicht ganz nah an sein Ohr brachte. Haribald hatte nicht einmal Zeit, erschrocken zurückzuweichen »Ich mache es auch. Heimlich. Heute Abend, wie jeden Samstagabend.«
Und dann kicherte sie. Haribald gefiel, wie ihr rotes Haar über die von Sommersprossen gesprenkelte Haut fiel. Ihre Brüste waren kaum mehr als eine Andeutung unter dem Kleid. Rotes Haar auf weißer Haut, dazu blassrosa Lippen und kleine, spitze Brustwarzen – ideal für eine Rötelzeichnung. Ob sie ihn diesen Kontrast zeichnen ließ, diese Authentizität? Nur Weiß und Rot, Papier und Kreide, die Wiedergabe der Natur, festgehalten für die Ewigkeit.
»Ich wasch mich jeden Tag«, sagte Haribald. Ihre Augen begannen zu leuchten.
»Komm mit«, sagte sie und nahm ihn bei der Hand. Überrascht folgte der schmale Junge ihr, flüsterte, flehte fast.
»Darf ich dich zeichnen?«
»Später«, flüsterte sie. Haribald seufzte unhörbar. Bekam er denn nie, was ihm wichtig war?
Die Vorratskammer war eng und roch nach Kohl, nach Äpfeln vom letzten Winter und nach Schinken. Sie klammerte sich an ihn und bohrte ihm ihre Zunge in den Mund. Ganz anders als ein paar Stunden zuvor. Diese Magd duftete frisch, nicht ranzig wie die Bäuerin. Hier brauchte er keinen Überzieher. Und doch war es nicht, was er wollte. Er wollte sie ansehen, mit den Augen verschlingen und ihr Antlitz zu Papier bringen.
Das dünne Kleid war schnell gehoben, die Beine gespreizt. Im flackernden Licht der Kerze, die das Mädchen auf das Regal mit den Broten gestellt hatte, jubelte Haribald über milchweiße Haut, über spitze Brüste mit hellroten Nippeln, über rotes Haar auf einem köstlichen Schamhügel, über die rosafarbene Möse,