»Wo seid Ihr«, flüsterte eine Stimme ganz nah.
»Hier«, antwortete Tim leise, kurz bevor ihn die ersten Hände am Bein berührten.
»Wir dürfen kein Licht machen. Das Stroh ist zu trocken. Aber zum Musizieren braucht man ja kein Licht, oder?«
Tim brummte verschlafen. Wie spät es wohl sein mochte? Eigentlich war ihm jetzt mehr nach Schlafen zumute als nach Musik.
»Meine Schwestern sind auch da.«
Kichern. Rascheln. Die Hände blieben, obwohl sie ihn gefunden hatten, an Ort und Stelle, wanderten über das Knie noch höher. Wieder Kichern und Flüstern. War da nicht auch eine tiefe Stimme dabei?
»Wir sind ganz aufgeregt, dass wir für Euch spielen sollen.«
Tim rieb sich die Augen. Die Dunkelheit blieb vollkommen. Jemand band sein Hemd auf. Andere Finger zappelten am Bund seiner Hose. Sein Herz pochte aufgeregt. Wieder raschelte es im Stroh, und diesmal mischte sich das trockene Rascheln von Leinen darunter. Dreistimmiges Kichern. Oder sogar vierstimmiges? Wie viele Personen waren auf dem Heuboden?
»Soll ich Euch zeigen, wie gut ich Flöte spielen kann?«
»Ja«, sagte Tim nur, und dann wurde ihm ein Konzert geboten, das dem Hofe des Herzogs würdig gewesen wäre. Auf sein Gesicht presste sich ein weibliches Instrument, das er mit seiner geübten Zunge zum Klingen brachte, und seine Hände spielten in feuchten Spalten das Lied der Lust. Noch bevor das Flötenspiel seinen Abschluss fand, kam es zu einem Duett, und bald keuchten und stöhnten die Musikanten auf dem dunklen Heuschober in allen Stimmlagen.
»Nimm das Öl«, hörte er es bald flüstern, obwohl ihm zwei feste Schenkel auf die Ohren drückten und im vor lauter Schmatzen und Schlecken die Sinne vergangen. Gleich darauf spürte Tim dort, wo die Tochter des Bauern auf ihm saß, Hände und Finger und Öl und Bewegung, und es wurde im Bass gebrummt und Sopran gesungen und er wusste, dass sie im nicht nur im Quartett sondern im Quintett Musik machten.
Die ganze Nacht wurde mehrstimmig gespielt, und als der Morgen graute und die Geschwister den Heuboden verließen, hatte Tim längst erfahren, wie gut auch der Sohn des Bauern sein Instrument beherrschte.
Erschöpft und glücklich schlief Tim mit seiner spanischen Gitarre im Arm im weichen Heu ein, um davon zu träumen, am Hofe des Herzogs von Braunschweig-Wolfenbüttel alle Frauen des Schlosses mit dem Spiel auf seiner Gitarre und seinem Gesang an seine Lippen zu fesseln.
In der Herberge
Bei Anbruch der Dunkelheit erreichten Professor Bechstein und Haribald die Stadt Blankenburg.
Der Wächter hatte bereits Fackeln angezündet und wollte gerade das Tor schließen, wies ihnen mürrisch den Weg, nachdem Bechstein den Passierschein bezahlt hatte. Haribald brachte die Kutsche vor dem Gasthaus Goldener Gockel in der Poststraße zum Stehen, ließ Bechstein absteigen und folgte ihm mit dem Gepäck. Die Tür war niedrig, der Schankraum düster. Bechstein musste sich bücken und auf der Schwelle warten, bis sich seine Augen an das Zwielicht gewöhnt hatten.
»Wir bringen Euer Pferd in den Stall hinter dem Haus«, schlug der Wirt vor, ein mageres Wiesel mit dürren Beinen und fusseligem Bart, der mehr mit seinen Händen als mit der Zunge sprach.
»Nicht nötig«, winkte Professor Bechstein ab. »Das schläft bei mir.«
»So witzig«, sagte Haribald.
»Könntet Ihr bitte die Kutsche unterstellen? Zeigt dann meinem Assistenten den Stall, damit er sie später finden kann.«
»Braucht er Stroh?«
»Nein, er speist mit mir. Sonst rennt er morgen wieder so langsam.«
Die Wirtsstube war klein und verräuchert. Im Kamin flackerte ein Feuer. Vier Männer an einem der Tische, sonst war niemand im Gasthaus. Der Professor zog sein Barett und grüßte.
»Besuch«, sagte ein dicker Mann mit vollem Bart, wie ihn Kaiser Karl V. getragen hatte. Unter seinem Wams wölbte sich ein mächtiger Bauch über den Bund der Pluderhose. Die Spieler legten ihre Karten zur Seite und tranken fast synchron von ihrem Bier. Der offene Kamin in ihrem Rücken knackte und knisterte, das Holz warf Funken in den Raum. In der Luft lag der würzige Geruch von Tanne.
»Guten Abend, der Herr«, sagte der Dicke. »Was führt Euch nach Blankenburg?«
Bechstein zögerte. Auf der zweiten Stufe hielt der Wirt inne. Welch ungünstig direkte Frage, dachte Bechstein. Gemacht für eine günstig indirekte Antwort. »Der Mensch.« Sein Schritt in den Raum war halblang.
»Der Mensch?«, wiederholte der Dicke und lachte herzlich. »Kennen wir ihn?«
Ein großer, blonder Mann mit ernstem Gesicht und spitzem Kinnbart schlug ihm den Ellenbogen in die Rippen. Der Dritte, hager und asketisch im Körperbau, rieb sich schweigend seine krumme Adlernase und sah dabei zu Boden, ein kräftiger Mann mit Halbglatze ließ ungeduldig die Karten zwischen den Fingern knattern.
»Ich bin Wissenschaftler an der Universität Greifswald, von Stettin aus unterwegs auf einer Forschungsreise mit meinem Assistenten und Schüler Haribald hier.«
Haribald lächelte zaghaft. Das Gespräch hatte ihm gerade noch gefehlt. Jeder Satz hielt ihn länger davon ab, die Bilder in seinem Kopf zu zeichnen, die Penetration, die Hautfalten, die dunkle Hütte, die Schatten.
»Und Ihr sucht also den Menschen?«, fragte der Hagere mit der Adlernase.
Bechstein kratzte sich am Hinterkopf. »Nun, ich untersuche ihn, um genau zu sein.«
»Ihr untersucht ihn. Erzählt uns mehr. Was genau untersucht Ihr?«
»Das Thema ist sehr komplex und ich stehe erst in der Mitte meiner Studien. Falls Ihr gestattet, möchte ich vorerst so viel verraten: es geht um Grundlagenforschung.«
»Verratet mir wenigstens, warum Ihr dazu gerade in unser verschlafenes Nest kommt«, sagte der Blonde.
»Es ist vor allem die Lage.« Bechstein drehte seine Mütze zwischen den Händen, machte einen weiteren Schritt in den Schankraum und sah zu Boden.
Müsste mal gewischt werden, dachte er, bevor er den Kopf hob.
»Die Lage? Wovon genau sprecht Ihr, in Gottes Namen? Setzt Euch und erzählt«, forderte der Hagere. Der Dicke und der Blonde nickten, der Kräftige kniff kritisch die Augen zusammen.
Bechstein drehte sich um zu Haribald, der die Augen verdrehend an der Theke stand. Der Wirt neben ihm verzog keine Miene. Mit einem breiten Lächeln wandte sich der Professor wieder den Männern zu.
»Vielleicht ein anderes Mal. Die Reise hat mich sehr erschöpft, und mein Assistent hat noch eine Lektion zu lernen. Ich würde Euch gerne später ein paar Fragen stellen. Mit wem hatte ich die Ehre?«
»Mein Name ist Peter Solberg, Ratsherr von Blankenburg«, sagte der Bärtige. »Das ist Richard Dülmen, der Bürgermeister, und dort seht Ihr Burkhard Widmann, unseren Stadtkämmerer, daneben Claus Nowak, Ratsherr und Vorsitzender der Handwerkerinnung. Wie ist Euer Name?«
»Ludwig Bechstein. Sehr erfreut.«
Er machte eine kleine Verbeugung. Die vier Männer neigten ihre Köpfe ebenfalls.
»Es würde uns sehr gefallen, wenn Ihr uns mehr über Eure Arbeit erzähltet. Vielleicht führt Euch morgen Euer Weg ins Rathaus.«
Bechstein dankte. Der Wirt ging voran in den ersten Stock. Haribald kämpfte sich schimpfend mit dem Gepäck hinterher. In der zweiten Etage, direkt unter dem Dach, öffnete der Wirt eine schmale Tür zu einem engen Zimmer. Ein Fenster führte hinaus zur Straße. In einer Ecke des Raumes