„Sik!“, knurrte Nok und machte einen Schritt auf sie zu.
„Was?“, fauchte Chara.
Da war er auch schon neben ihr, zog irgendetwas von ihrem Kopfpolster und wedelte damit vor seiner Nase herum.
„Was ist das?“ Chara setzte sich auf.
„Hoi!“
„Gib her.“ Sie griff nach dem Gegenstand, aber Nok riss ihn an sich.
„He, das lag auf meinem Kopfpolster! Mein Kopfpolster, mein … Ding, alles klar?“
Offenbar stufte Nok den Gegenstand als ungefährlich ein, denn nach einem weiteren, forschenden Blick sagte er „Od!“, drückte ihr diesen in die Hand und verzog sich wieder neben die Tür.
Argwöhnisch öffnete Chara ihre Finger. Ein gläsernes Gefäß dunkelvioletter Farbigkeit kam zum Vorschein, eine kleine, schmale Phiole. Sie war mit irgendeiner Flüssigkeit gefüllt, die etwas dicker als Wasser war, einen Hauch sämiger. Folglich handelte es sich nicht um Gift. Was dann? Eine Art Heiltrank? Mit Heiltränken kannte sie sich nicht aus.
Da war kein Verschluss. Das Glas war verschweißt. Sie hätte die Phiole schon zerschlagen müssen, um an den Inhalt zu kommen. Suchend spähte Chara auf ihr Kissen und fand ein kleines Pergamentröllchen. Sie nahm es an sich und entfaltete es. Es war Al’Jebals Handschrift. Sie erkannte die feine Linienführung sofort.
Du bist mein.
Es war also nicht vorbei. Er mochte sie fortgeschickt haben, und doch ließ er sie nicht gehen.
Dies ist ein Teil von mir. Kehr heil zu mir zurück. Al’Jebal.
Chara hob die Phiole vor ihr Gesicht und kniff die Augen zusammen. Blut … Es war Blut! Nicht irgendeines, es war sein Blut. Und es hatte nur deshalb diese tiefviolette Färbung, weil der Behälter aus indigoblauem Glas war. Rot und Blau … Das Resultat war ein tiefes, sattes, Feuer und Eis einendes Violett.
Sie schloss die Finger fest um die Phiole, ließ sich auf die Matratze fallen und starrte an die Decke. Der Zorn, der sie den ganzen Tag über begleitet hatte, stahl sich auf leisen Sohlen davon.
Kehr heil zu mir zurück …
Chara schob den Unterarm über ihre Augen. „Ich verspreche es.“
Schwarze Segel
Ceaddag, 1. Trideade im Trollmond, 347 nGF – TAG 1
Kühle Temperaturen
Windstärke: 3
Windrichtung: N
Kurs: SW
6 Knoten Fahrt
Zurückgelegte Strecke: 60 VALM
Flotte hat Fahrt aufgenommen. Erhalten Benachrichtigung, dass uns Herkul Polonius Schroeder und seine Schiffe vorläufig folgen werden – als Geleitschutz, als Sicherheitsnetz …
Daradag, 1. Trideade im Trollmond, 347 nGF – TAG 2
Milde Temperaturen
Windstärke: 2
Windrichtung: SW
Kurs: WSW (Kreuzen aufgrund der Windverhältnisse)
2 Knoten Fahrt
Zurückgelegte Strecke: 22 VALM
Die magischen Versetzkreise und Kommunikationszentren auf den Kommandoschiffen sind vollständig eingerichtet und aktiv. Das Expeditionskommando verschickt Nachricht an alle Vizeadmiräle und Kapitäne über den Auftrag dieser Mission: Wir suchen Verbündete. Keine Informationen zu den Einzelheiten und das genaue örtliche Ziel unserer Reise. Bis jetzt wurde nur ich darüber aufgeklärt, dass wir den Großen Abgrund überwinden sollen.
Triudag, 1. Trideade im Trollmond, 347 nGF – TAG 3
Kühle Temperaturen
Windstärke: 2
Windrichtung: O
Kurs: WSW (Kreuzen aufgrund der Windverhältnisse)
4 Knoten Fahrt
Zurückgelegte Strecke: 44 VALM
Keine besonderen Vorfälle.
Catrudag, 1. Trideade im Trollmond, 347 nGF – TAG 4
Kühle Temperaturen
Windstärke: 2
Windrichtung: S
Kurs: WSW (Kreuzen aufgrund der Windverhältnisse)
3 Knoten Fahrt
Zurückgelegte Strecke: 33 VALM
Das Expeditionskommando hält Sitzung. Informationen bezüglich des Großen Abgrunds werden zusammengetragen. Bisher keine hilfreichen Erkenntnisse.
(Logbuch, Tauron Hagegard)
Es war der fünfte Tag auf hoher See, als Tauron am frühen Morgen das Magierquartier im Heck des Mannschaftsdecks verließ und die Treppe zur Steuermannskajüte hochsprang.
Schroeders Nachricht war besorgniserregend. Wenn man es genau nahm, war einiges an dieser Expedition nicht, wie es sein sollte. Wenn das, was ihm das Expeditionskommando erst kürzlich anvertraut hatte, wahr war, gab es da draußen noch unerforschtes Land. Es war einfach nicht zu glauben. Und selbst wenn diese neue Welt tatsächlich existierte, wenn es dort tatsächlich Leute gab, mit denen man reden konnte … Was, wenn sie keine Lust hatten, zu reden? Was, wenn sie mächtiger waren als alle Einwohner Amaleas zusammen?
Tauron zerrte den Knoten seines Kopftuchs fest, während seine Gedanken Haken schlugen.
Kurs Richtung Süden, hatte es geheißen. Über den Abgrund!, hatten sie gesagt. Land finden!, lautete die Devise.
„Ha!“ Als wäre er nicht selbst scharf darauf, die Grenzen dieser Welt zu überwinden. Aber was hatten sie tatsächlich an Hinweisen auf eine Welt außerhalb von Amalea? Geschichten, Mären, Seemannsgarn … Wir haben genug Informationen, hatten sie behauptet. Aber was hatten sie wirklich?
Irgendwelche Vögel, die in den Süden verschwanden und während der kalten Monde wie vom Erdboden verschluckt waren, um im Bärenmond wieder aufzutauchen. Die Geschichte eines Entdeckers, der wohl jedem Piraten ein Begriff war, aber dessen Mären auch niemand glaubte, nicht einmal der Verrückteste unter ihnen. Sanduran der Seefahrer … Klar kannte Tauron den, weil das Buch mit Sandurans Abenteuergeschichten so ziemlich jedem Freibeuter bekannt war. Was da drin stand, war spannend, elektrisierend, aber auch hanebüchener Schwachsinn. Verbrannte Menschen im Süden … Was hatte Sanduran noch erzählt? Er war auf Hühnern so groß wie Gryphen geritten, nachdem er von Wichteln angegriffen worden war, die ihn mit Säuregeschossen attackierten … Na klar!
Doch Chara schien an die verbrannten Menschen zu glauben, ebenso wie Siralen und Lucretia L’Incarto.
Egal. Was auch immer sie da draußen finden würden, jetzt stand Schroeders Warnung an der Tagesordnung und sollten sie dieses Problem nicht lösen, brauchten sie sich keine Sorgen mehr um das Ende der Welt zu machen.
„Kurs halten“, gab Tauron dem Steuermann im Vorübergehen weiter. Ohne auf eine Reaktion zu warten, trat er von der Steuermannskajüte aufs Hauptdeck, sprang die Treppe zum Poopdeck hoch und öffnete die Tür zur Offiziersmesse.
„Wir werden verfolgt!“, schmetterte er, warf die Tür hinter sich zu und unterbrach damit das Frühstück der ehrenwerten