Alles in allem also eine aufregende Darbietung der Allianzführung einerseits und des Expeditionskommandos andererseits, was eines übereifrigen Getuschels allemal würdig war:
„Habt ihr diese Wilden gesehen? Sind eindeutig Kannibalen, wenn ihr mich fragt.“
„Wie kommt’s, dass die eine Assassinin bewachen?“
„Eine Elfenkriegerin im Kommando … na, das kann ja heiter werden.“
„Wisst ihr überhaupt, dass die Lächlerin den mächtigsten Nekromanten aller Zeiten niedergestreckt hat?“
„Das ist nicht wahr … er war nur ein Anfänger. Telos Malakin, der weiß, wie man das Chaos in den Boden hämmert. Hat den Propheten Togh Levas in die Unterwelt geschickt und ein ganzes Dorf voller Chaosanhänger ganz allein gehämmert.“
„Weiß jemand von euch, wieso man sie Sandkorn nennt? Ich meine, was hat der Name überhaupt zu bedeuten?“
„Klein, unwichtig, scheuert penetrant, wenn man es ins Auge bekommt …“
„Es heißt Sandkorn auf der Schicksalswaage – Na, klingelt da was bei euch?“
Es wurde gemunkelt, spekuliert, gepriesen und prophezeit, aber keiner ließ sich dabei die Gelegenheit durch die Lappen gehen, die berüchtigten Allianzmitglieder ganz genau in Augenschein zu nehmen.
Lucretia hatte sich in feines, aber zweckdienliches Tuch gekleidet. Sie trug einen kurzen Hosenrock, eine hochgeknöpfte Bluse und einen Lodenumhang. Ihr wichtigstes und sehr geschätztes Hab und Gut hatte sie in drei große Holztruhen verpackt, die bereits an Bord der Meerjungfrau geschafft worden waren. Jetzt stand sie mit einem leichten Handkoffer, den breitkrempigen Hut zwischen Finger und Henkel geklemmt und einem seltsam euphorischen Gefühl im Bauch vor dem Sprecher der Allianz. Neben ihr unterhielt sich Stowokor leise mit ihrem Berater Magus Primus Major Ahrsa Kasai.
Ein leises Räuspern, dann wandte sie sich Al’Jebal zu. „Ich danke Euch für die Unterstützung, die Ihr mir in Gestalt des Magus Primus zur Seite gestellt habt“, begann sie und nickte verhalten in Kasais Richtung. „Soweit ich informiert bin, war er es, der einen Großteil der Besatzungsmitglieder geprüft und ausgewählt hat. Und nach allem, was ich bis jetzt von ihm sehen durfte, ist er über seine magischen Fähigkeiten hinaus auch ein hervorragender Logistiker.“
Al’Jebal warf dem Magus einen kurzen Blick zu, schien in Gedanken aber woanders zu sein.
„Er ist kompetent“, lautete seine schmucklose Antwort. „Was Euch betrifft, erinnert Euch, was ich Euch gesagt habe.“
Natürlich erinnerte sie sich. Sie wusste genau, dass ihr in Erainn misslungen war, was sie sich so strikt vorgenommen hatte. Sie hatte ihre Untergebenen nicht von sich überzeugen können. Und das war es, worauf es laut Al’Jebal ankam, wenn man sich Macht erwerben wollte. Ihre magischen Fähigkeiten allein reichten dafür nicht aus. Außerdem erinnerte sie sich an die Situation im Kerker von Mon Asul. Sie war bereit gewesen, die Würde und das Leben eines Mannes zu opfern, um ihr altes, schönes Gesicht zurückzubekommen und die schreckliche Narbe endlich loszuwerden, die sie sich in Cunair Tarr zugezogen hatte. Sie hätte den infamen Helm benutzt. Doch Al’Jebal hatte es im letzten Moment unterbunden und ihr damit eine Lehre erteilt.
Ihr werdet mit Eurem Makel leben müssen. Seine Worte verursachten ihr noch immer Albträume. Was Al’Jebal offenbar nicht honorieren wollte, war, dass sie für ihn an ihre Grenzen gegangen war. Sie hatte erlebt, wie es war, sich ohnmächtig zu fühlen. Doch jetzt war es an der Zeit, voranzuschreiten und sich von dem Schmutz der vergangenen, entwürdigenden Ereignisse des Krieges reinzuwaschen. Eine Expedition versprach neue Ufer, unbekannte Dinge und Wesen, die es zu entdecken und verstehen galt, neue Herausforderungen für die Magie, die sich fortlaufend weiterentwickelte – eben alles andere als das, womit ein offener Krieg in all seinen blutigen, dreckigen und elenden Facetten aufwartete.
Lucretia zupfte sich eine Locke aus der Stirn und sah Al’Jebal aufrecht in die Augen. „Ich erinnere mich an Eure Lehren und werde ihrer gedenken“, sagte sie mit allem Ernst, der ihr innewohnte. „Ich werde hart an mir arbeiten.“ Lucretia fühlte, wie allein durch diese Worte neue Zuversicht in ihr zum Leben erwachte. „Lebt wohl, Al’Jebal.“
„Viel Erfolg, Magus Secundus“, antwortete Al’Jebal, und Lucretia machte sich auf den Weg zur Planke. Der neue Titel eines Magus Secundus klang ihr wohlig in den Ohren. Nach ihrer letzten Ausbildung hatte sie der oberste Zauberkundige Gemiramel Weißfels in den nächsthöheren Rang einer Magierin aufsteigen lassen. Neben ihrem Ehrentitel war dies eine Bestätigung dafür, dass ihre Leistungen nicht unbemerkt geblieben waren.
Als sie die Planke betrat, streifte Lucretias Hand über die Lederrolle an ihrem Gürtel.
Was wollt Ihr? Wir können Euch helfen.
Sie hatte die Botschaft aus unbekannter Feder beantwortet oder besser, eine Frage zurückgeschickt, in der Hoffnung, mehr über den Verfasser zu erfahren. Die Antwort war nicht gerade hilfreich gewesen: Jemand, der Euch geben kann, was Ihr Euch wünscht.
Sie hatte sich vorgenommen, einstweilen nicht darauf zu reagieren, erst einmal abzuwarten. Noch hatte sie mit Stowokor nicht über ihr Antwortschreiben gesprochen. Und irgendetwas mahnte sie davor, es in nächster Zeit zu tun.
„Wir bitten um Erlaubnis, an Bord kommen zu dürfen!“, rief sie dem Admiral zu, der in eben diesem Moment an Deck der Meerjungfrau erschien und ihr selbstbewusst entgegenpfefferte: „Erteilt!“
Lucretia stieß ein leises Seufzen aus und winkte Stowokor und Ahrsa Kasai heran, die zusammen mit ihr das Schiff bestiegen.
Chara stand hinter Telos, seiner Geliebten, Sarah El’Rohir, und Siralen und schielte zwischen deren Schultern zu Al’Jebal, der sich gerade von Lucretia verabschiedet hatte. Über ihrer Schulter hing ihr kleiner Lederrucksack und eine wasserdichte Lederrolle, in der sie die schwarze Rose verwahrte. Ihre Waffen trug sie alle bei sich, darunter ihre Zweililie, drei Nahuas, zwei Dolche, zwei Wurfmesser, drei Wurfsterne und die Peitsche. Ihre magische Rüstung hatte sie zusammen mit ihrer spärlichen Garderobe, einigen Gebrauchsgegenständen, darunter eine ganz beachtliche Menge an Hatschmana und Jhu-Ju, und fünf ihrer kleinen, noch unbeschriebenen schwarzen Bücher in eine Truhe verfrachtet.
Nachdem sie den Hafen betreten hatte, war auch Kerrim aufgetaucht und hatte sich an ihre Seite gedrängt.
„Aufgeregt?“, hatte er gefragt und ihr dabei draufgängerisch zugezwinkert. Als sie nur ein grummelndes „Hm“ zur Antwort gab, hatte er es dabei belassen und vertrieb sich nun die Zeit damit, die Hafenanlage mit seinen Blicken zu erkunden.
Vierzig weitere Dad Siki Na … Chara sah nach ihren neuen Leibwachen. Dreißig davon verteilten sich über den Hafen und suchten die ihnen zugewiesenen Schiffe der Kommandoflotte, während dreiundzwanzig zusammen mit ihr und den anderen Expeditionsmitgliedern an Bord des Flaggschiffs gehen würden.
Die Aussicht darauf, in Zukunft von sagenhaften dreiundfünfzig Stammeskriegern verfolgt zu werden, war nicht gerade erhebend. Überhaupt war ihr der Gedanke daran, dieses Schiff zu besteigen und auf den weiten Ozean zu segeln, eine regelrechte Drangsal. Zum ersten Mal verspürte sie das brennende Bedürfnis, Al’Jebals Befehl zu verweigern – nicht indirekt, wie sie es bereits getan hatte, sondern von Angesicht zu Angesicht. Einfach vor ihn hintreten und „Nein“ sagen. Nein zu diesem Auftrag, Nein zu ihren neuen Leibwachen, Nein zu ihrer Kommandoposition, Nein zu seinem Entschluss, sie ins Nirgendwo zu schicken, während er hier gegen das Chaosbündnis in den Krieg zog. Die Expedition war wichtig, sicher. Sie selbst hatte während der Allianzfeier klar gemacht, wie wichtig sie war. Aber sie, Chara, konnte nicht viel zu ihrem Gelingen beitragen. Sie war hier in Tamang besser aufgehoben.
Die Zweililie an ihrem Rückengurt drückte unangenehm gegen ihre Wirbelsäule, als sie einen weiteren Schritt in der Reihe nach vorne machte.