„Edith ist verbittert, weil ihr Mann sie verlassen hat“, erklärte Anni der Gisela. Sie habe jahrelang um den Mann gebangt, der bis 1945 in Sachsenhausen saß. Er kam krank zurück, sie pflegte ihn in der Zeit danach, hatte manches ihm zugesteckt, was sie lieber hätte den Kindern geben sollen. Leidlich gesund, ging er auf eine Parteischule, wo er eine andere kennenlernte. Sie wollte es nicht glauben, obwohl alle es schon wussten. Dann die Scheidung und sie wieder mit den Jungen allein, die inzwischen schwierig geworden waren, dreizehn- und fünfzehnjährig. Inzwischen hatten die schon Familie, und Edith erzählte freudig über die Enkel, ohne die sonst immer lauernde Häme in der Stimme.
Bei einer der montäglichen Arbeitssitzungen kam es zum Streit zwischen Edith und Helga Pietsch, die sonst viel die Köpfe zusammensteckten, sich in allem zu verstehen schienen. In Diskussionen beriefen sie sich auf Helgas Mann, der ein führender Genosse in der Agitationsabteilung im großen Haus war, wie Gisela erfahren hatte. Deshalb bestritt Helga gewöhnlich den ersten Tagesordnungspunkt der Sitzungen, dem Gespräch über aktuelle politische Ereignisse. Irene erklärte derlei zu einer Pflichtübung, die sie zum Kotzen fand, Gisela fand einen solchen Austausch interessant, erfuhr manches dabei. Heute hatte Genossin Pietsch in ihrer Einleitung den Namen eines bis dahin gänzlich unbekannten Mannes erwähnt, von dem sie meinte, dass wir ihn uns alle zum Vorbild nehmen sollten. Von der Brigade Nikolai Mamai aus dem chemischen Werk in Bitterfeld sei uns beispielhaft vorgemacht worden, wie wir auf sozialistische Weise arbeiten, lernen, leben könnten in diesem ersten Jahr eines neuen Siebenjahrplans, bei dem es darauf ankomme, die sozialistische Gesellschaft weiter auszugestalten. Sie schlug vor, das politische Gespräch mit den Parteilosen zu intensivieren, womit sie allgemeinen Beifall fand. Dann nannte sie Namen älterer Kollegen, die sich fachlich weiterbilden sollten. Darunter auch den von Edith Gütze, die sofort heftig auffuhr und ihr entgegenhielt, dass man ihr vor nicht langer Zeit eine solche Möglichkeit vermasselt habe, weil man sie hier nicht entbehren wollte und sie schließlich nicht jünger werde. „Bei mir ist es vorbei mit Qualifizierung, was ich für die Arbeit brauche, kann ich“, rief sie aufgebracht. Anni Metz wiederum fand die Vorschläge für gemeinsame Theaterbesuche und Buchbesprechungen gut und schön, aber als sie solche Dinge vor einiger Zeit organisiert habe, war der Zuspruch gering geblieben. „Gerade du, Helga, hattest immer keine Zeit oder mit deinem Mann etwas Besseres vor“, hielt sie ihr entgegen. Und Herr Kobus erinnerte an den Streit um den Spätdienst und meinte, die wichtigste Sache hier sei, dafür zu sorgen, dass die gewünschten Bücher schnell zugänglich sind. Das gelte auch für die Westzeitungen, die noch nach 17 Uhr verfügbar sein müssten. Auf Helgas Gesicht arbeitete es heftig, als sie sich solchen Anwürfen gegenüber sah. Ihr Kinn fiel nach unten und ihre Augen weiteten sich, bevor sie sich zur Entgegnung fasste. Die Diskussion hier fand sie typisch für die politische Gesamtsituation in der Bibliothek. Sie bedauere das umso mehr, als die jungen Kolleginnen hier schlechte Beispiele vorgeführt bekämen. Alle sollten sich überlegen, wie sie der neuen Parteilosung, die nicht ohne Grund ausgegeben wurde, gerecht werden und in der nächsten Woche Vorschläge dazu unterbreiten. Einige, die nicht gesprochen hatten, pflichteten ihr bei, mit Gesichtern, denen abzulesen war, dass es um Höheres ging, als hier offenbar wurde.
Bei Gisela weckte der Streit den Verdacht, dass sich hier nicht alle so gut miteinander verstanden, wie sie angenommen hatte. Sie erlebte das erste Mal, dass Herr Kobus Helga Pietsch widersprach. Irene, mit der sie beim Nachhauseweg das Gespräch darüber suchte, wehrte ab, sah in dem Ganzen einen Versuch, sich noch weitgehender in die Privatangelegenheiten der Leute einzumischen. Aber sie mache da nicht mit, lange bliebe sie ohnehin nicht mehr, gab sie Gisela zu verstehen. Gisela schien die Reaktion der anderen nicht unbedingt mit dem zusammenzugehören, was sie erlebt hatten. Daher schob sie deren Erregung auf eine Sache, die sich einige Tage zuvor ereignet hatte. Anni Metz fahndete nach der Mitarbeiterin, die auf der Damentoilette rauchte. Sie fragte Gisela, die mit gutem Gewissen verneinte. Sie hatte ihre frühen Rauchererfahrungen schon vor einigen Jahren ohne nennenswerte Eindrücke hinter sich gebracht. Von Irene wusste sie gar nicht, dass die Zigaretten rauchte. Achim hatte immer den Stängel zwischen den Lippen, wenn er auf Irene wartete, aber sie nicht. Und nun ergab sich, dass der Qualm auf der Damentoilette tatsächlich von ihr herrührte. Die reagierte auf die Enthüllung mit Verbitterung, betrachtete die Sache als Einmischung in ihre Privatsphäre. Zwar war es in den Lesesälen verboten zu rauchen, aber im Katalograum standen Edith und Helga oft mit ihren Zigaretten in der Hand. Dort hätte auch Irene rauchen können. Aber sie bekannte sich nicht, nicht einmal vor ihrer Gefährtin. Gisela verstand es nicht. Irene wollte sich separieren, sich niemandem zugesellen, sprach wütend von Nachspioniererei. Gisela gab es auf, weiter in sie zu dringen, weil deren Reaktionen sich ähnelten, ganz gleich, worauf sie erfolgten. Irene sprach offensichtlich ihrem Achim zuliebe so. Der forderte sie mit herablassenden Bemerkungen über ihre Arbeitsstelle heraus, verlangte, dass sie sich absetzen solle von den Roten dort. Einzelne Kolleginnen interessierten ihn dabei nicht. Erzählungen über Anni oder Edith, deren Lebensgeschichten Gisela neugierig aufgenommen hatte, fanden bei ihm keinen Widerhall. Mit Irene allein, war das anders. Sie hörte zu, sagte erstaunt: „Was du alles weißt von denen.“
Lipsi tanzen
Ostern war vorbei. Gisela führte schon seit einiger Zeit Aufsicht in ihrem eingerichteten Lesesaal. Herr Kobus war mit Helga Pietsch, der Parteigruppenorganisatorin, gekommen, sie waren an den Regalen entlang gegangen, hatten die Signaturen geprüft und den Katalog in Augenschein genommen. Der Chef fand wenig zu beanstanden, er hatte ihre Arbeit die ganze Zeit über mit Rat und Hinweisen unterstützt. Anders seine Begleiterin. Die ging in ihren hochhackigen Schuhen neben ihm her, fand an manchem etwas auszusetzen. Sie monierte die Trennpappen, auf denen die Namen der Sachgruppen bezeichnet waren. Sie waren grau und nur auf einer Seite von Gisela mit weißem Papier überklebt, um die Schrift lesbar zu machen. Der gefiel das auch nicht besonders, aber sie sah keine andere Möglichkeit. Die Einwendungen der Frau empfand sie als kleinlich, die hielt sich ausschließlich an solchen Formalien auf. Dabei brachte sie die Kritik in herablassender Art vor, Gisela stieg die Röte ins Gesicht, wenn sie sich ihr zuwandte. Das geschah allerdings nur ein- oder zweimal, meist sprach sie zu Herrn Kobus oder vor sich hin. Der spendete am Ende des Rundganges freizügig Lob, in das Frau Pietsch nicht einstimmte.
Gisela war jetzt auch am Spätdienst beteiligt, der einmal in der Woche zu absolvieren war. Die Sperrbibliothek blieb dann geschlossen, sie konnte nur benutzt werden, wenn eine Genossin Dienst tat. Es war zwischen beiden Leitern auf diesen Kompromiss hinausgelaufen. Gisela saß in ihrem Lesesaal und gab den Benutzern Auskünfte, half beim Benutzen der Kataloge, im Umgang mit Bibliographien, bei der Suche nach Nachschlagewerken. Langsam lernte sie die Männer kennen, die hier vor allem kamen, konnte sie den entsprechenden Lehrstühlen und ihren Interessen zuordnen. Einige waren sympathisch, andere weniger. Welchen Eindruck sie hinterließ, darüber machte sie sich wenig Gedanken. Sie erschrak, wenn sie zufällig hörte, dass der eine oder andere draußen im Katalograum eine Bemerkung über ihre Jugend fallen ließ und dabei auf das beifällige Gekicher von Edith rechnen konnte, die ihr gegenüber immer sehr ernst und überlegen sprach. Gisela war randvoll mit ihrer neuen Aufgabe, im Tätigsein verbarg sie ihre Befangenheit. Die leichte Röte, die ihr ins Gesicht stieg, wenn jemand sie ansprach, konnte für den Ausdruck ihres Eifers gehalten werden, mit dem sie sich in die Arbeiten stürzte.
Es war eine halbe Stunde vor Dienstende, nur noch zwei Leser saßen an den Tischen, als sie im Katalograum die Tür hörte, hinausging, um nachzuschauen. Freimut Wirker kam, der erste, den sie von den Aspiranten mit dem Namen kannte, weil sie sich als FDJlerin bei ihm angemeldet hatte. Er war dem Jugendalter schon entwachsen, nannte sich einen Freund der Jugend, der die Geschichte des sozialistischen Jugendverbandes mitgestaltet hatte und sie jetzt aufschreiben wollte. Er trug auch heute das Blauhemd, lachte auf eine Weise, die er wahrscheinlich für jugendlich hielt. Beides kontrastierte mit einer ausgeprägten Stirnglatze, die stets einen glänzenden Schein hatte. Nein, er wolle nichts mehr, er komme, um sie zum Tanzen zu holen, sagte er schnell. Gisela wusste zwar vom Heimabend der Jugendgruppe. Sie hatte Spätdienst, würde nicht hingehen können, sie war nicht traurig darüber. Schon die erste Zusammenkunft sagte ihr, dass sie für sich hier nichts zu er-warten hatte. Daher überraschte es sie, zu hören, es werde dort getanzt. Wirker