An einem der letzten Augusttage stand er vor ihr im Lesesaal, war sonnen-gebräunt und übergab ihr eine lange Kette. Sie war entzückt über die kleinen, aufgefädelten Muscheln, trug die Kette über einem rot gemusterten, ausgeschnittenen Kleid. An Spätsommerwochenenden radelten sie von Königs Wusterhausen zu einem der umliegenden Seen. Dort stellten sie ein kleines graues Zelt auf, das er aus der ehelichen Wohnung geholt hatte. Auch sein Fahrrad musste Johannes erst fahrtüchtig machen, es hatte Jahre herumgestanden und Rost angesetzt. Man war Auto gefahren in den letzten Jahren, aber das behielt jetzt die Frau und er wollte gern an die Radtouren seiner Jugend anknüpfen, die er ins Erzgebirge und in die Sächsische Schweiz unternommen hatte. Der Umstieg aufs Fahrrad erschien ihm als Rückkehr zur Jugend, für die er ihr, Gisela zu danken habe. Bei solchen Worten blickte sie zu ihm auf und war stolz. Längst hatte sie es aufgegeben, irgendeine innere Reserve gegen ihn aufzubauen. In den langen Wochen der Trennung hatte sie sich vorgenommen, ihn ihre Enttäuschung spüren zu lassen. Als er von seiner Sehnsucht sprach und sich nach ihrer erkundigte, sagte sie spitz: „Manchmal hab ich an dich gedacht; aber ich wusste nicht, wie ich an dich denken sollte.” Sogleich schoss ihr das Blut ins Gesicht, sie bereute ihre Worte, fürchtete, ihn zurückzustoßen. Sie wollte ihn treffen und ihm doch nah sein, aber es war klar, dass sie ihrer Absicht nicht gewachsen war. Er machte es ihr durch viele Worte leicht, ihren eigenen eine andere Bedeutung zu geben. Die untauglichen Versuche, sich gegen ihn zu wappnen, unterließ sie dann.
Im Herbst fuhr er mit ihr nach Dresden, zeigte ihr Schloss Pillnitz, die Alten Meister im Semperbau und das Grüne Gewölbe. Sie wohnten in einem richtigen Hotel. Es war alles sehr neu für Gisela, die beglückt, wie auf Wolken an seiner Seite lief. Als sie zurückkamen, meinte die Mutter, dass es wohl an der Zeit wäre, den Freund vorzustellen, den sie so hartnäckig geheim hielt. Gisela bemerkte die Verärgerung der Mutter. Es war ihr peinlich, sie wusste selbst nicht genau, warum sie es hinauszögerte. Sie hoffte wohl auf den baldigen Umzug in die neue Wohnung, die der Vater angekündigt hatte. Johannes müsste sich dann nicht wegen der niedrigen Verandatür bücken, um einzutreten. Eine solche Szene hatte Gisela stets vor sich, wenn sie an die Begegnung dachte. Verlegenheit verursachte ihr auch der Umstand, dass Johannes noch verheiratet war. Besonders die Mutter würde mit Fragen bohren, auf die sie selbst keine Antwort wusste. Sie würde aufwühlen, was sie bei sich gerade ruhig gestellt hatte.
”Ich stell euch Johannes vor, wenn wir in der Wohnung wohnen“, sagte sie leichthin. Auffahrend entgegnete die Mutter: „Dann braucht der Herr auch nicht mehr zu kommen.“ Dabei riss die kleine rundliche Frau ihre braunen Augen weit auf und starrte der Tochter ins Gesicht. Da begriff die, dass die Mutter ihrem Johannes die Schuld an der Heimlichtuerei gab. Sie vermutete wohl, dass ihm ein Besuch in der Laube als Zumutung erscheinen würde. Gisela beeilte sich, das Gegenteil zu versichern und kündigte an, dass sie ihn bald kennenlernen würden.
Johannes kam mit einem großen gelben Herbstasternstrauß für die Mutter. Die kleine Frau verschwand fast dahinter, wirkte verlegen, als sie ihn entgegennahm. Sie stand in der Verandatür, von der es in die schmale Wohnküche ging. Dahinter lag das kleine Wohnzimmer, in dem es behaglich warm war von einem braunen Kachelofen. Der Kaffeetisch war gedeckt, die Mutter hatte ihren Mohnkuchen gebacken und man saß um den ausziehbaren Tisch herum. Johannes lobte die Behausung, war überrascht, dass alles selbst gebaut war, fand es praktisch und sauber bei ihnen. Die Eltern erzählten vom Umbau vor einigen Jahren, der durch Kriegseinwirkungen notwendig geworden war. Die 1926 für den Sommer erbaute Laube, hatte der Vater in seinen Arbeitslosenjahren mit Brettern umkleidet, sie notdürftig für den Winter hergerichtet. Infolge der Erschütterungen durch niedergehende Bomben war die gemauerte Wand zwischen innerer und äußerer Bretterwand eingefallen, man konnte es an Ausbuchtungen erkennen. Der Umbau ging unter großen Schwierigkeiten vonstatten, es fehlte an Material und am Geld. Jeden Stein putzten die Eltern selber, holten ihn mit dem Handwagen aus Adlershof heran. Nur einmal hatten sie zum Transport für Abrissholz einen Pferdewagen bekommen. Johannes hörte zu, sagte, dass ihn vieles an das Leben der Eltern in einer Freitaler Arbeitersiedlung erinnere. Er hatte dem Vater schnell das Du angetragen, weil man ja wohl der gleichen Partei angehöre, wie er von Gisela wisse. Der Vater stimmte zu, stellte Fragen nach Johannes’ Ausbildung und seinen beruflichen Perspektiven. Johannes gab freimütig Auskunft. Ja, er würde eine Dissertation zu einem philosophischen Thema schreiben, würde die philosophischen Probleme der friedlichen Koexistenz klären. Der Vater, stets begierig hinzuzulernen und belesen zwischen Haeckel, Nietzsche und Lenin, fand, das wäre doch eine politische und keine philosophische Frage. Unter Philosophie stelle er sich anderes vor, meinte er trocken. Nun holte Johannes weit aus und bewies dem Älteren eine falsche Sicht auf die Dinge. Der schwieg und zog den Mund ganz eng zusammen, während er vor sich hin schaute. Irgendwann sagte er dann noch, dass es in den Betrieben ganz anders aussähe, als man sich dort, wo Johannes studierte, einbildete. Jedenfalls in seinem Johannisthaler Betrieb sei von sozialistischer Gemeinschaftsarbeit und ehrlichem Wettbewerb nichts zu spüren. Die primitivsten Organisationsfragen seien nicht geregelt. Johannes bestätigte, dass er von seinem Vater, aus dem Freitaler Stahlwerk, Ähnliches gesagt bekomme. Aber man müsse größere Zusammenhänge sehen. Die führte er dann wortreich aus. Der Vater, durch die vielen Worte stumm geworden, entgegnete, das mit den größeren Zusammenhängen stimme schon, nur bezweifle er, dass die von denen oben gesehen würden, wenn er an manche Anordnung denke. Außerdem fehlten immer mehr Arbeitskräfte, die gingen über den Teltow-Kanal nach Britz, wo die Firma das andere Standbein habe.
Johannes wandte sich an die Mutter, lobte den Kuchen, erzählte von seiner Mutter, den drei Schwestern, die ihn alle, ihren einzigen Bruder, sehr liebten. Bei solcherlei Unterhaltung verging der Nachmittag schnell. Zwar bemerkte Gisela eine leicht kontroverse Stimmung bei den Diskussionen der Männer, aber das fand sie nicht ungewöhnlich. Immer gab es politische Diskussionen in ihrer Familie. Meistens zwischen dem Vater und den Westberlinern aus Neukölln und Kreuzberg. Währungsreform, Schiebermarkt, Grenzgängertum, Polizeikontrollen, alles kam bis ins Wohnzimmer, wenn sie bei den Familienfeiern stritten. Jetzt hatten sich die Fronten verkehrt. Während sonst die Westberliner, Mitglieder oder Sympathisanten der SPD, ihre Fragen an den Vater richteten und der nach Antworten und Erklärungen suchte, war jetzt er derjenige, der fragte. Er schien von Johannes Antworten zu erwarten und schwieg, weil sie offensichtlich unbefriedigend für ihn ausfielen.
Als sie ihren Johannes noch bis zum eisernen Tor brachte und den schmalen Laubenweg zurücklief, war sie erleichtert, dass alles so gut und freundlich verlaufen war. Nun erst fiel ihr auf, dass die Mutter, die immer an Familiärem interessiert war, weder nach Johannes Kindern, noch nach seinem Familienstand gefragt hatte. Es war einfach übergangen worden. Als sie zurückkam, hantierte die Mutter in der Wohnküche, stellte das Abendbrot auf den Küchentisch, während der Vater hinter der Zeitung saß. Sie schaute der Tochter gleichmütig und freundlich ins Gesicht und sagte: „Setz dich man und iss“, als müsste sie sie beruhigen. Der Vater legte die Zeitung aus der Hand, setzte sich zum Essen zurecht und sagte knapp: „Der Johannes ist ein ganz Schlauer.“ Gisela wartete wie auf ein Urteil, aber es fiel kein weiteres Wort. Die Eltern blieben zurückhaltend.
Bald sollten sie in eine Wohnung umziehen. Sie gehörte zu einem Quartier, das zum 10. Jahrestag der DDR fertiggestellt worden war, auf einem Gelände am Plänterwald, wo zuvor Lauben gestanden hatten. Der Vater