”Man braucht dich dort oben”, sagte Jugendfreund Wirker und schlug vor, die Bibliothek etwas früher zu schließen. Seine Worte versetzten sie sofort in Unruhe, eine solch freudige Aussicht hatte sie an diesem Abend nicht mehr erwartet. Im Nu verflog die Müdigkeit, die ihr nach einem Arbeitstag auf den Augen lag. Sie ging zur Toilette, kontrollierte Haar und Gesicht vor dem Spiegel, präparierte sich für ihren Auftritt. Viel war nicht nötig dafür, das kurze dichte Haar blieb ziemlich unbeeindruckt von Tag und Tageslauf. Im Lesesaal räumte sie ihren Arbeitsplatz auf, verbreitete durch Hin- und Hergehen Unruhe, bis der letzte Leser verschwand. Dann drehte sie das Licht aus, verschloss die Tür und brachte das Schlüsselbund zu den uniformierten Wachmännern am Eingang. Schon als sie die Treppe hinaufstieg, hörte sie Musik. Man begrüßte sie freudig als zusätzliche Tänzerin, vermittelte sie an einen groß gewachsenen, gutaussehenden Mann als Partnerin, den sie schon vom Lesesaal her kannte. Zwei oder dreimal war er da gewesen, hatte nach einem Philosophenlexikon gefragt, in das er kurz schaute und wieder ging. Er war sehr freundlich, zuvorkommend, hielt Gisela mit einer besonderen Geste die Tür auf, ließ sie vorangehen. Das hatte sie bisher nicht unbedingt als üblich erlebt. Frau Gütze, die viel über die Männer wusste, hielt ihn für eingebildet, er brächte es glatt fertig, sie zu übersehen, wenn er nichts von ihr wollte. „Der schöne Johannes“, nannte sie ihn lächelnd und gebrauchte die Kurzform seines Namens, als sie über einen möglichen Familienkrach bei ihm sprach. „Mit einer Schauspielerin verheiratet zu sein ist sicherlich nicht leicht“, meinte sie verständnisvoll, um mit der Erwartung fortzufahren, sein Einzug ins Internat sei wohl nur vorübergehend.
Das fiel Gisela aber erst auf dem Weg zur Friedrichstraße ein, den sie allein durch die menschenleeren Straßen machte. Während des Tanzens dachte sie daran nicht, denn sie war voll im Banne des Tanzes und des Mannes, der sie führte. Er hielt sie fest im Arm, deutete auch im Auseinandergehen die Schrittfolge an, die sie machen musste. Man gab ihr einen kurzen Nachhilfekurs für den Tanz, die Schrittfolge war nicht schwer und die anderen waren ihr nicht weit voraus. Der Mann führte sie so, dass sie ganz leicht ihre Fehler korrigieren konnte, dabei lächelte er, schaute ihr von oben ins Gesicht und neigte sich ihr zu, wenn sie etwas sagte. Er ging ganz ernst auf sie ein. Ob ihr seine grauen Augen mit den Lachfalten drum herum und sein weicher Mund gleich an diesem Abend auffielen, wusste sie später nicht zu sagen. Sie wusste nur, dass er einen ihr den Atem beraubenden Eindruck auf sie gemacht hatte. Als die Tanzstunde jäh endete, erwachte sie aus einer Verzauberung.
Wenig hörte sie von den Worten der Tanzschöpfer, die sich mit der Erwartung verabschiedeten, dass ihnen mit dem Lipsi ein Wurf gelungen sei, der der DDR- Unterhaltungskultur Auftrieb geben werde. Sie legten es in die Begeisterung der Anwesenden, diesen Tanz weiter zu empfehlen. „Ihr könnt viel tun dabei“, riefen sie in den kleinen Saal, bevor sie sich verabschiedeten.
Gisela tanzte von früher Jugend an im Vereinsheim ihrer Laubenkolonie modische Tänze, die der Vater immer nur Gehopse nannte. Deren Rhythmus war ihr stärker in die Beine gefahren, als dieser Tanz hier, der sie mehr an den Reigen erinnerte, den sie als Kinder bei Sommerfesten einstudiert hatten.
Es war nicht der Tanzrhythmus, der sie an diesem Abend wie auf Wolken durch die menschenleeren Straßen gehen ließ, die sie sonst niemals ohne Beklemmung durchquerte.
Seitdem lebte sie in gehobener Erwartung. Hoffte, dass er den Lesesaal betrat, erwartete, ihn während des Mittagessens zu treffen. Wenn sie sich sahen, grüßte er sie freundlich und aufmerksam. Sie wartete auf seine Blicke. Jetzt kam ihr in den Sinn, was Edith über ihn erzählt hatte und sie spitzte die Ohren, wenn sein Name im Gespräch fiel, war in ständiger Alarmbereitschaft. Eines Tages hörte sie, wie Helga Pietsch zu Edith Gütze sagte: „Das muss man sich mal vorstellen, der große Mann mit der Kleenen!“ Die andere lachte und meinte: „Naja, wenn es beim Tanzen bleibt.“ Nach einem Moment bekam Gisela mit, dass sie gemeint war. Ein kleiner Schreck durchfuhr sie, dann sagte sie sich, dass sie das aushalten würde.
Plötzlich stand der Tänzer vor ihr im Lesesaal. Obwohl sie darauf gewartet hatte, traf es sie unvorbereitet. Die Röte schoss ihr ins Gesicht als sie zu ihm hochblickte. Er kam nicht ihretwegen, sondern brauchte zwei Bücher aus der Staatsbibliothek. Das gehörte, seitdem der Lesesaal eingerichtet war, zu ihren Aufgaben. „Fernleihe“ hieß der Vorgang, den sie zu organisieren hatte. Sie trug für die Dozenten und Aspiranten Bücher aus der dreihundert Meter entfernten Staatsbibliothek in die Taubenstraße. Sie tat es nicht ungern, konnte sie doch tagsüber ihren Arbeitsplatz verlassen, durch die Straßen gehen. Außerdem traf sie dort diesen und jenen. Die große Bibliothek verlor in dieser Zeit ihren Schrecken für sie. Die Büchertaschen, die sie trug, waren schwer, sie musste sie mehrmals absetzen bis sie am Ziel war. Da fuhr manchmal ein führender Genosse, dessen Bücher sie in der Tasche trug, im Auto an ihr vorbei, aber man sah sie wohl nicht mit ihrer schweren Tasche.
Es handele sich um Bücher, in denen die philosophische Epochenproblematik behandelt wurde, erklärte ihr der Mann. Vom bürgerlichen Standpunkt natürlich, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu. Was damit gemeint war, wusste Gisela nicht. Aber sie wollte in ihrem großen Brockhaus nachschau-en, der hinter ihrem Arbeitstisch stand. Als er gegangen war, spürte sie freudige Erregung. Er war nicht ihretwegen hier, aber er würde wiederkommen. Es gab ein Band zwischen ihnen und sie würde zu verstehen suchen, was ihn beschäftigte. Das erschien ihr wie ein Weg zu ihm hin. Tage später kam er, die bestellten Bücher abzuholen. Sie musste ihm sagen, dass sie noch nicht hier waren, und er schien erst jetzt zu bemerken, dass sie es war, die die Wälzer herbeischaffen musste. Er schlug vor, sie bei ihrem nächsten Gang zu begleiten. Darauf freute sie sich, war erleichtert, ihm beweisen zu können, dass nicht sie die Schuld daran trug, dass er seine Bücher noch nicht hatte.
Sie ging gern neben ihm, nicht nur weil er ihr die Büchertasche trug. Er erkundigte sich nach ihrer Ausbildung und gestand, dass er die große Bibliothek das erste Mal betreten würde. „Ich hoffe, Sie werden mir sagen, wie ich mich zurechtfinden kann“, meinte er, an Gisela gewandt, die sich durch seine Anrede erhöht fühlte und ihm gern die Geheimnisse der großen Bibliothek erklären wollte. Ein wenig überraschte es sie, dass es bei einem so erwachsenen Mann nötig war. Es gehe jetzt darum, endgültig die Höhen von Kultur und Bildung zu erstürmen, auch er wisse viel zu wenig, wolle die Zeit nutzen, um sein lückenhaftes Wissen zu vervollständigen. Dieses Eingeständnis brachte Gisela dazu, ihm zu erzählen, dass sie den von ihm verwendeten Begriff Epochenproblematik gesucht und weder im großen Brockhaus, noch in sonst einem Lexikon gefunden hatte. Für ihren Wissensdurst lobte er sie, wie es auch ihr Vater immer tat, erklärte ihr aber, dass sich diese Lexika nicht auf der Höhe der Zeit befänden. „Unserer Zeit“, schloss er an und meinte, „die richtigen Bücher über uns werden jetzt erst geschrieben.“ An einem dieser Bücher war er selbst beteiligt mit dem Stichwort über einen der wichtigsten Grundsätze unserer Epoche, der friedlichen Koexistenz. Gisela hörte ihm aufmerksam zu, hatte das Gefühl, dass er den Schlüssel bei sich trug, den sie für ihr Leben suchte. Er kam ganz unversehens von philosophischen Fragen auf seine Eltern zu sprechen, erzählte vom Vater, einem Metallformer, und von sich selbst als dem Arbeiterkind, das zum Zünglein an der Waage geworden ist. Sie fand sich wieder in dem, was er sagte, wie er sie anhörte, ihr beipflichtete, sie nicht zurückwies mit Worten.
In den nächsten Wochen dachte sie häufig an dieses Gespräch, hoffte, dass es sich wieder ergeben würde. Sie wartete. An einem Freitagabend im Juni, sie schloss die Fenster, die sie in der lauen Luft jetzt den ganzen Tag offen ließ, stand er plötzlich hinter ihr, lud sie zu einem Ballettabend in der Deutschen Staatsoper ein. Es traf sie wie ein freudiger Blitz, sie sagte ohne zu zögern zu. Bei früheren Bekanntschaften hatte sie sich ein wenig geziert, das kam ihr jetzt nicht in den Sinn. Solches Flunkern verbot sich, wenn sie nicht riskieren wollte, etwas zu verspielen. Er verabredete sich mit ihr zum Abendessen, zwei Stunden vor Beginn der Vorstellung. Die nächsten Tage lebte sie nur auf diese Stunde hin. Freudige Erwartung, aber auch Beklommenheit spürte sie. Sie schaute mit anderen Augen auf das Opernhaus, wenn sie den Opernplatz überquerte. Es würde das erste Mal sein, dass sie dort hineinging. Ihr Kleid aus Chinabrokat mit Teehäuschen auf blauem Grund würde sie anziehen. Für dieses Kleid hatte sie