Als Sechzehnjährige hatte sie ein Erlebnis, das ihr für einige Zeit das ganze Westberlin verleidete. Pfingsten 1954 traf sich in den Tiergartenfestsälen die SS-Bärendivision. Nicht nur der Vater, auch die Westberliner Verwandten empörten sich. Man sprach von einer Provokation. Der lange Fritz, FDJ-Sekretär an Giselas Schule, hielt eine flammende Rede, in der er sie alle dazu aufforderte, den Nazi-Spuk auseinanderzutreiben.
”Wir werden verhindern, dass die dort zusammenkommen”, kündigte Gisela großspurig der Mutter an, die den Kopf schüttelte, weil sie das für einen Missbrauch von Kindern hielt. Gisela fühlte sich erwachsen, wollte dabei sein. Immerhin hatte sie die Reaktion der Mutter etwas ernüchtert, die ihr riet, sich unbedingt zurückzuhalten bei allem.
Es gab einen für Gisela unerwartet großen Menschenauflauf dort, und es gab Mannschaftswagen mit Polizisten und Wasserwerfern. Sie wurden eingesetzt, nachdem die Versammelten den Lautsprecheraufforderungen, sich zu zerstreuen, nicht nachkamen. Im Gedächtnis blieb ihr vor allem der Polizist, der ihr mit einem erhobenen Knüppel in einen Park hinterherlief und über den Rücken schlug. Panische Angst schlug in ihr hoch, sie rannte wie um ihr Leben, konnte sich lange nicht beruhigen und begriff, dass sie Heldenhaftes von sich lieber nicht mehr verlangen wollte. Sie würde zukünftig solche Gelegenheiten meiden, fürchtete, in ihnen zu versagen. Erst langsam verlor sie die Angst, auch vor den grünen Polizisten, die sich um unauffällige Käufer nicht weiter kümmerten.
Nun begann es wieder unbehaglich zu werden. Die Grenze, die sie bisher ziemlich gedankenlos überquerte, bekam eine neue Bedeutung. Sie trug sie jetzt gewissermaßen in sich, wenn sie mit den Augen suchte, ob Bekannte zu sehen waren. Als sie am Montag nach ihrer Fahrt mit dem Westring der S-Bahn in ihre Bibliothek kam, war ihr unbehaglich zumute. Ein Gefühl zwischen Spannung und Angst schnürte die Luft ab und sie brauchte den ganzen Tag, um es loszuwerden. Sie bemerkte, dass sie sich überschätzt hatte mit ihrer Ankündigung, das abverlangte Gebot zu ignorieren. Bisher hatte sie direkte Verbote kaum kennengelernt. Die Eltern ließen zwar erkennen, was sie von ihr erwarteten, überließen ihr im Einzelnen aber die Entscheidung. Kleine Übertretungen blieben nicht unbemerkt, aber waren doch so, dass die Folgen zu tragen waren. Hier stand das erste Mal mehr auf dem Spiel. Es war ernst, das spürte sie. Sie würde gehorchen müssen, das Verbot achten, wenn es nur dies eine Mal noch durchgehen würde. Gegen Mittag, als sie aus der Kantine hochkam, ging Anni hinter ihr in den Lesesaal und sagte beiläufig, am Ende einer kurzen Unterhaltung: „Pass auf, Gisela, überlege, was du willst,“ Und nach einer kleinen Pause, „Ich möchte, dass du hier weiterhin arbeitest!” Sie schaute dabei mit ihren braunen Augen auf das Mädchen, das sich an die der Mutter erinnert fühlte. Sie war der Frau dankbar. Es würde nichts nachfolgen, zuckte es ihr durch den Kopf. Es war gut gegangen, aber sie würde sich entscheiden müssen. Die kurze Erleichterung würde nicht vorhalten. Sie verschob das Nachdenken darüber auf Morgen.
Zu ihrem eigenen Erstaunen arbeitete sie mit wahrem Feuereifer, nachdem Herr Kobus ihr die Sachgruppen des Lesesaals erklärt hatte. Sie mussten den vier Abteilungen entsprechen, die es in dem auf Marmor bezeichneten Institut gab. Die Abteilungen hießen Lehrstühle und jeder von ihnen sollte ein Regal mit Büchern bekommen. Einige Regale standen schon, aber sie waren nur lückenhaft mit Büchern gefüllt. Herr Kobus erklärte ihr, dass sie den drei Bestandteilen des Marxismus-Leninismus entsprachen und erinnerte an das, was er im Unterricht der Fachschule dazu gesagt hatte. Sie erinnerte sich an seine Ausführungen, denen sie eher gleichgültig zugehört hatte. Aber sie wusste immerhin, dass es Philosophie, Ökonomie und die Historie sein sollten, die hier vertreten waren. Außerdem gebe es noch einen Lehrstuhl für Literatur und Kunst, die eigentlich nicht zum Marxismus gehörten, wie Herr Kobus sie wissen ließ, aber doch auch noch dazukämen. Auch verwies er auf die lange Stirnseite hinter ihrem Platz im Lesesaal, an der Lexika, Wörterbücher und Bibliographien standen. Auch sie müssten neu geordnet werden. Dann zeigte er auf die Katalogkästen. „Muss alles neu geordnet werden, ist alles höchst fragmentarisch“, meinte er ermunternd und verließ den Lesesaal.
Gisela war erleichtert, seinen Erklärungen zu entgehen, waren sie doch bei-nahe in Prüfungen ausgeartet. Die Informationen, die er ihr hinterlassen hatte, lagen so ungeordnet wie die Bücher. Sie würde sich langsam einen Überblick verschaffen, irgendwo beginnen. Fand sie einen Anfang, würde sich der Faden schon erkennen lassen, der alles zusammenhielt. Sie würde hier zunächst vor allem Titelaufnahmen machen müssen und dabei das brauchen, was man ihr in der Fachschule beigebracht hatte. Ihr Bemühen hatte sich da-rauf zu richten, auf einer Karteikarte alle notwendigen Angaben zu verzeichnen, mit deren Hilfe man ein Buch wiederfinden konnte. Jeder Punkt und je-de Klammer hatten dabei ihre Bedeutung, was ihr ziemlich übertrieben er-schienen war. Jetzt sah sie, es war notwendig, um sich in der Masse von Buchtiteln nicht hoffnungslos zu verlieren.
Während der Zeit des Praktikums in der Staatsbibliothek war es ihr nicht gelungen, Karteikarten zur Zufriedenheit der älteren Bibliothekarinnen aus-zufüllen. Die steile Normschrift von Ackerknecht fiel ihrer Hand schwer, Punkt und Komma, eckige oder runde Klammern standen an falscher Stelle. Auch mit dem Alphabet haperte es bei ihr, wenn sie die Karteikarten an ihren richtigen Ort stellen sollte. Weglaufen hätte sie mögen, als sie mitbekam, dass der Beruf, in den sie wegen ihres Bücherhungers geraten war, gar nichts mit Lesen zu tun hatte. Bücher ordnen, katalogisieren, eintragen, austragen; oh, es könnten auch Brote sein. Und solche Tätigkeit sollte ein Beruf fürs Leben werden!
Lange Zeit war sie ohne feste Vorstellungen über das, was sie werden wollte. Ihr Interesse war ganz unspezifisch auf das Leben gerichtet. Neugierig war sie, ohne zu wissen, worauf. Die Antwort hoffte sie in Büchern zu finden, die sie massenhaft verschlang.
Hier, in ihrer Arbeitsstelle hatte sie es glücklicherweise mit wirklichen Büchern zu tun. Anders als in der Staatsbibliothek, da lagerten die Bücher in fernen Magazinen, in die Bibliothekare gar nicht vordrangen. Magaziner, auf die ihre Berufskolleginnen geringschätzig herabblickten, zogen die Bücher aus den Regalen, wenn sie von Lesern verlangt wurden. Ihre Bücher hier mussten katalogisiert werden, die konnte sie anfassen, aufschlagen, lesen. Auch stand sie nicht ständig unter Aufsicht. Herr Kobus kam und fragte, womit sie beginnen wolle und wie sie den weiteren Fortgang der Arbeit geplant habe. Er gab ihr diesen und jenen Hinweis, vermied es, ihr auf die Finger zu schauen. Ein Vierteljahr veranschlagte er für die dringendsten Arbeiten, dann müsse der Leseraum benutzbar sein. Über diese genaue Festlegung war sie erschrocken, sie hatte keine Vorstellung von der Zeitdauer der Arbeit. Würde sie das schaffen, ertragen, eine so lange Zeit immer mit der gleichen Sache beschäftigt zu sein? Bis Ostern, ein unermesslich langer Zeitraum schien ihr das, hatte das Jahr doch eben erst begonnen. Sie hatte noch nicht erlebt, wie sich die Zeit in Abschnitte gliedert, die mit den Jahren immer schneller vergehen sollten. Noch hatte sie das Zeitgefühl der Jugend, alle Zeit lag vor ihr. Ein Schuljahr dehnte sich unermesslich lang, während die Ferien schnell vergingen, das immerhin hatte sie schon erlebt.