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nicht darauf aus, sich ihm gegenüber unbedingt wohl zu verhalten, seinen Beifall auf diese billige Weise einzuheimsen. Sie hatte durchaus ihren eigenen dicken Schädel, wie die Mutter meinte, wenn sie sich mit kindlichem Trotz gegen die Eltern durchzusetzen suchte. Sie widersprach dem Vater, wo sie konnte. Aber mit der Freien Deutschen Jugend war es so, dass sie spürte, das lag ihm am Herzen. Es hatte mit dem zu tun, was sie an ihm bewunderte, seinen Mut, seine Unerschrockenheit und seine Unbestechlichkeit, wenn es um Überzeugungen ging, seine Zivilcourage, den eigenen Standpunkt zu vertreten. Denn es war unpopulär, was er seinen Vereinskollegen sagte, kurz nach dem Krieg, wenn er sie daran erinnerte, dass sie noch vor Kurzem den Arm zum Hitlergruß nicht hoch genug bekommen hatten. „Russenknecht” hatte ihm ein Sozialdemokrat entgegengehalten, als er für die SED warb. Auch gegenüber dem Westberliner Teil der Familie stritt der Vater gegen die schnelle Vergesslichkeit der Menschen. Er hatte meistens gegen alle recht. So erschien es der Tochter jedenfalls, weil die anderen auf seine Fragen keine Antwort hatten und ihm in vielem beistimmten. Die Eindrücke aus solchen Familienszenen trug sie unverlierbar in sich: ihr Vater mit gestikulierenden Händen, die blauen Augen sprühten Funken in solchen Augenblicken. „Reg dich doch nur nicht so auf”, beschwichtigte die Mutter.

      Zur Zeit ihres ersten Arbeitsganges war er ruhiger geworden, denn er war fast sechzig. Die Westberliner attackierte er nicht mehr so vehement, sondern schimpfte jetzt mehr auf die Leute, die im Betrieb etwas zu sagen hatten und von allem viel zu wenig verstünden. „Sie denken nur an den eigenen Vorteil”, beschloss er solche Betrachtungen. Hier schloss er alle ein. Den neuen Parteisekretär, der nur noch reden wolle und nicht arbeiten. Auch die Arbeiter, die seinen Betrieb, der medizinisch-technische Geräte herstellte, verließen, um hinter dem Teltow-Kanal, in Britz für einen Unternehmer zu arbeiten, bei dem sie sich ausbeuten ließen. Auch sie denken nur an den eigenen Vorteil. In seinem Betrieb war er verantwortlich gemacht worden, technisch begründete Arbeitsnormen zu entwickeln. Er stand mit der Stoppuhr hinter der Werkbank, nahm die Zeiten, die die Arbeiter für die einzelnen Handgriffe brauchten. Es ist nicht angenehm, aber notwendig, ließ er die Mutter wissen. Manche Kollegen wollten ihn für dumm verkaufen, das vertrage er schlecht. Die meisten Arbeiter akzeptierten eine leistungsgerechte Entlohnung. Aber die sehen auch, dass es oben nicht stimmt. „Warum denn nur wir?”, wiederholt er deren Fragen und fasst seine Bedenken in den Satz: „Ja, der Fisch stinkt immer zuerst am Kopf.“

      Gisela hatte das Empfinden, dass der Vater meistens richtig lag mit seiner Meinung. Manchmal war er ungerecht, schoss über das Ziel hinaus, aber dann besänftigte ihn die Mutter und er lenkte ein. Er blieb nicht unbelehrbar und konnte reumütig sein, wenn sein cholerisches Temperament mit ihm durchgegangen war. Diese Ausbrüche hatte sie als Kind gefürchtet, begriff schnell, dass man ihm in solchen Augenblicken aus dem Wege gehen musste. Langsam verschwand ihre Furcht davor, sie sah, dass er selbst unter ihnen litt. Unbegreiflich blieb ihr, warum er sich so wenig beherrschen konnte, bei allem, was er von anderen verlangte. Aber vermisste nicht auch an sich, beschämend oft, die Unerschrockenheit und den Mut, den sie gern selbst gehabt hätte?

       Ihr Lesesaal

      Der Eindruck, dass sie mit ihrem Arbeitsplatz das große Los gezogen hatte, erhielt sich eine ganze Weile. Allerdings verging bald das Überraschende, das in einem Gewinn liegt, den der Zufall uns zuspielt. Neuordnen sollte sie den Buchbestand und ergänzen durch Bücher, die aus dem Magazin geholt wer-den sollten. Sie fragte sich nicht, wie viel Zeit eine solche Arbeit erfordern würde, sondern nahm alles in Augenschein und begann. Das war am zweiten Tag. Bevor sie gegen Mittag im blauen Kittel mit dem Abstauben der Regale anfing, musste sie mit Irene noch einmal zur Kaderleitung. Dort bekamen beide einen landesüblichen Laufzettel, mit dem sie sich in der Buchhaltung, beim FDGB, bei der FDJ und bei der Betriebsschwester zu melden hatten. Beide gaben ihre ausgefüllten Fragebögen zurück und bekamen ein Formular, das zu unterschreiben war. Darin verpflichteten sie sich durch Unterschrift, dass sie fortan die Berliner Westsektoren nicht mehr betreten würden. Sie unterschrieben damit gleichzeitig, sich für den Frieden einzusetzen und jeden Anschlag auf ihn vereiteln zu helfen. Nach kurzem Zögern, setzten beide ihren Namenszug unter das Schriftstück. Gisela mit dem Gedanken, dass es ganz unmöglich sei, solche Versicherung einzuhalten. Sie dachte an ihre Tanten und Cousins in Neukölln und Kreuzberg, an ihren Großvater, mit dem sie vor jedem Geburtstags- und Weihnachtsfest in der Hermannstraße einkaufte. Sie hing nicht übermäßig an ihm, denn er war ein stiller in sich gekehrter Mann, zu dem man nicht leicht Zugang fand. Aber sie schätzte diese Einkaufsgänge, die er mit ihr unternahm, seitdem er bei der Tante, einer Schwester ihres Vaters wohnte. Die hatte ihn offensichtlich dazu ermuntert. Es war erst seit Kurzem, dass er ihr so auf diese Weise half, Wünsche zu erfüllen. Irene machte ihren verkniffenen Mund, als beide das Zimmer verließen und die Treppe hinuntergingen. „Das hab ich erwartet“, sagte sie böse, und Gisela wunderte sich, wie sie das hatte wissen können. Aber sie fragte nicht nach, schloss aus der verärgerten Reaktion der anderen, dass die das offensichtlich ernster nahm, als sie selbst.

      Gisela hatte sich seit ihrer Kindheit daran gewöhnt, bestimmte Verbote zu übertreten und damit keine schlechten Erfahrungen gemacht. Manchmal, wenn es unangenehm für sie ausgegangen war, akzeptierte sie das als die Grenze, die sie nicht mehr zu übertreten versuchte. Da es meist gut ausgegangen war, verschafften ihr ihre Übertretungen ein leises Triumphgefühl, gaben ihr eine innere Freiheit, Lebenszuversicht. Als sie am Abend dieses Tages zusammen mit Irene und deren Freund Achim in Richtung Friedrichstraße ging, kam das Gespräch sofort auf dieses Thema. Gisela verriet nicht, wie sie mit der Sache umgehen wollte. Sie zuckte nur die Achseln und schwieg, als Irene und Achim ihren Ärger über die Zumutung herausließen. „Kannste mal sehen, wat die für Angst hab´n“, meinte Achim, nachdem seine Freundin die Worte der Kaderfrau berichtet hatte. „Es ist nicht zuletzt auch zu eurem eigenen Schutz“, hatte die, an beide Mädchen gewandt, verlauten lassen. Eine Bemerkung, die auch Giselas Erstaunen auslöste. Sie erschien ihr übertrieben. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sich außer ihren Eltern, jemand für sie interessierte.

      Als sie zu Hause die Sache mit den Eltern besprach, machten die nicht viel Worte. Der Vater zuckte in der gewohnten Weise die Achseln und sagte: „Du musst wissen, was du tust”, nachdem sie triumphierend verkündet hatte, dass sie sich derlei nicht verbieten lassen würde. Die Mutter sagte mit leiser Stimme: „Gib nicht so an“. Und dann, nach eine kurzen Pause, ganz sachlich: „Du musst aufpassen“.

      In den nächsten Monaten ging Gisela mehrmals in die verbotene Richtung. Obwohl sie sich einredete, alles sei wie immer, bemerkte sie eine Veränderung. Allenfalls ging es noch, wenn sie in der Nähe ihrer Laubenkolonie auf der Holzbrücke den Kanal überquerte, um zur Brusendorfer Straße in Neukölln zu radeln, wo der Großvater wohnte. Für weitere Strecken stieg sie in die Straßenbahnlinie 95, die in der Sonnenallee schon seit mehreren Jahren unterbrochen war. Man stieg aus der Bahn, die aus Köpenick kam, aus, lief einige hundert Meter zu Fuß über die damals noch unsichtbare Grenze, um in die Westbahn nach Tempelhof wieder einzusteigen. Sie musste, wenn sie am Schwarzen Weg zustieg, damit rechnen, dass in der Bahn Bekannte saßen. Die Leute aus ihrer Wohngegend hatte sie nicht zu fürchten, wenn sie davon absah, dass die sie mit einem leisen Triumphgefühl in der Stimme fragten, „Na, fährst wohl och in den Westen?” Sie bemerkte bald, dass dieser Tonfall nicht ihr galt, sondern dem Vater. Das berührte sie unangenehm, aber sie ertrug es, nickte nur mit dem Kopf. Komplizierter war es mit der S-Bahn von Baumschulenweg über Köllnische Heide nach Neukölln zu fahren. Auf dem Bahnsteig traf man so manchen. An einem Sonntagmorgen war es Anni, eine ältere Kollegin aus der Bibliothek, die sie gesehen haben konnte, wie sie ins Abteil des Zuges nach Westkreuz gestiegen war. Erschrecken fuhr ihr in die Glieder, sie konnte den ganzen Tag an nichts anderes denken. Die Frau musste sie gesehen haben! Obwohl sie so tat, als wäre es nicht so. Oder war es vorstellbar, dass sie Gisela wirklich nicht gesehen haben sollte? Und was bedeutete es, dass sie so tat, als wäre es so? Würde etwas nachkommen, ganz unerwartet? Sie bemerkte, sie hatte sich überschätzt mit ihrer großspurigen Ankündigung.

      Ihr Inneres war auf eine Weise alarmiert, wie sie es bisher nicht gekannt hatte. Sie war in dieser Stadt aufgewachsen. Seit sie denken konnte, gab es diese Sektorenschilder. Auf ihrem Schulweg musste sie vom sowjetischen Sektor in den amerikanischen und dann wieder in den sowjetischen Sektor. Sie hatte auf diesem langen Weg,