Einübung in ungewohnte Lebenslagen
Eigentlich liebte sie diese Hochsommertage im Juli, besonders morgens war es angenehm kühl auf dem Balkon, vor dem hohe, dichtbelaubte Linden-bäume standen. Sie sorgten dafür, dass das vordere Zimmer eine erträgliche Temperatur behielt. Sie besah sich ihre Geranien und Malven, goss sie hingebungsvoll, noch vor dem Frühstück. Sie würde ihr tägliches Schreibpensum heute erst am Nachmittag erledigen und jetzt, solange es noch kühl war, ihren Spaziergang machen. Spaziergänge an der Spree als alltäglicher Rahmen für ein Leben, das eigentlich schon hinter ihr lag. Erinnerung, Arbeit des Lebens, die sie jetzt leisten musste.
Natürlich musste sie nicht, aber sie konnte, weil sie unendlich Zeit hatte, eine wirklich neue Situation für sie. Zeit, immer knapp bemessen in ihrem Leben, wo war sie geblieben, die vergangene und die heutige, die schon vergangen war, wenn sie nach ihr fragte. Festhalten wollte sie die flüchtigen Stunden und Tage, bevor alles zerrann. Ja, sie wollte, sie musste!
Es gefiel ihr, wenn sie solchen Drang in sich spürte. Dieses Empfinden verlieh ihr noch immer das Gefühl eines Gewichts, das sie brauchte, um Leben erträglich zu machen für sich.
Von der Vielfunktionalität ihres weiblichen Daseins war nichts als der Status der Rentnerin geblieben. BfA-Ost gesichert, mit auskömmlichen Beträgen, bei nicht sehr entwickelten Bedürfnissen freilich. DDR-Bürgerin einst. Ihren Staat, die DDR, gab es seit zehn Jahren nicht mehr, aber sie gab es noch.
Ehefrau war sie einst, lange her, Geliebte, Genossin der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, 25 Jahre lang, auch vergangen, Wissenschaftlerin, Trägerin von Preisen und Auszeichnungen. Sollte sie vielleicht lieber für sich behalten, heute. Mutter zweier Kinder, einst mit erheblichen Erziehungsproblemen. Inzwischen erwachsen, Sohn und Tochter brauchen die Mutter nicht mehr. Man freut sich, wenn man sich sieht. Großmutter von vier Enkeln, immerhin, aber ziemlich verstreut die Nachkommenschaft, keine ordentlich, bürgerliche Familie. Nicht alternativ, sondern nur verunglückt, alles. So wie das Jahrhundert, das zu Ende geht. Das schrie nach Bilanzen, allerorten und nun verfiel auch sie auf die Idee, ihr Leben zu resümieren. Natürlich hielt sie es für nicht bedeutsam. Aber irgendwie doch, als studiertes Arbeiterkind des verflossenen, damals so genannten Arbeiter- und Bauernstaates. Vollkommen ohne Tradition, historisch gesehen, eine wirkliche Eintagsfliege. Auch wenn sie sich ihren Nachwuchs anschaute. Denen erscheint sie als Fossil aus vergangener Zeit. Vielleicht hatten sie recht, sie wollte es herausfinden. Um ihretwillen. Ehe sie erstickt an ihren asthmatischen Beschwerden, an ihrer Luftnot. Beschäftigung mit sich selbst, eine gewiss beschränkte Tätigkeit. Aber was blieb ihr noch? Ehrenämter für das neue Deutschland, von denen der Bundespräsident sprach? Aber wer wollte eine solche stalinistische Altlast?
Klüger werden durch Erinnern? Erinnerung war doch so beliebig, eine launige Dame nur. Mal ließ sie dieses, mal anderes durchblicken, bot sich feil für beruhigende Sichten, gab Erklärungen, wo und wie immer es Bedarf danach gab. Rechtfertigungen für dies und das, was immer sie brauchte.
Aber sie wollte keine Rechtfertigungen, keine Alibis, sie wollte die Wahrheit.
Sie schaut jetzt überrascht auf diesen letzten Halbsatz und erschrickt. Schon wieder diese Vermessenheit. „Wahrheit“? Sie konnte es nicht lassen. Sie begann bei ihrem unmaßgeblichen kleinen Ich und schon war sie bei der Menschheit.
Die Maße ihres Ichs sind schnell vermessen. Sie lebt heute wieder dort, wo sie ihr Leben begonnen hat und wo sie es aller Voraussicht nach beenden wird. Im Berliner Südosten, zwischen Baumschulenweg, Treptow und Neukölln. Eine mufflige, unzeitgemäße Mobilitätsverweigerin.
Leben an der Grenze, die die Berliner Landschaft bestimmt hat. Die Eltern kamen aus Neukölln, wie viele der Laubenpieper, die sich auf dem ausgedehnten Pachtland am Kanal nach und nach ihre notdürftige Unterkunft geschaffen hatten. Dort verlief dann die Grenze, erst nur durch Holztafeln markiert, auf denen schwarz auf weißem Grund in verschiedenen Sprachen zu lesen stand: „Sie betreten den amerikanischen Sektor von Berlin.“ Das Schild stand kurz hinter der schmalen Holzbrücke, die den Teltower Zweigkanal überquerte und die an Stelle der im April 1945 gesprengten Betonbrücke hinüber führte. Als Kind wunderte sie sich immer, dass dieser Satz im Deutschen nur eine Zeile ausmachte, während er in französischer, russischer und englischer Sprache den Raum von zwei Zeilen brauchte. Sie vermutete deshalb, dass die Wörter in fremder Sprache anderes bedeuteten. Aber der Vater bestritt das. Die Grenze hinderte sie nicht, auch die Ortschaften des väterlichen Lebens in Neukölln zu besuchen.
Der Großvater wohnte dort und schenkte ihr die erste Bluse ihres Lebens. Er bekam seine Rente in Westgeld für jahrzehntelange Arbeit in der Neuköllner Gasanstalt. Dafür durfte er nicht mehr auf sein Grundstück nach Klosterfelde, was er weinerlich bedauerte. Mit den Eltern war sie manchmal ins Stadtbad in die Ganghofer Straße gegangen, aber nach dem Krieg nur noch selten. Früher, hörte sie erzählen, war der Vater Stammgast dort, auch im Fichtesportverein nebenan. Bei ihr hatten diese Neuköllner Ortschaften nur flüchtige Eindrücke hinterlassen, mehr Erzähltes, als Gesehenes. Wer interessiert sich schon in der Jugend für die väterliche Lebenslandschaft? Sie kannte die Neuköllner Ortschaften aus der Nachkriegszeit, da zog sie vor allem das bunte Treiben auf der Karl-Marx-Straße mit ihren Buden und Ständen an, mit den gefüllten Schaufenstern, in denen Waren lagen, die sie ihren kindlichen Lebtag hindurch nicht gesehen hatte.
Jetzt, in ihr Alter hinein, rücken diese Ortschaften wieder ganz nahe. Sie nimmt sie in Augenschein, sucht nach Vertrautem im Fremdgewordenen. In zehn Minuten Radfahrt ist sie am Neuköllner Nachweis, wie der Vater den viergeschossigen rostroten Klinkerbau an der Sonnenallee nannte, in dem er einen Großteil seiner Jugend verbracht haben wollte. Nicht, dass sie das bezweifeln will, aber es verblüfft sie doch im Nachhinein, wenn sie an seine Er-zählungen denkt. Von fünf Jahren Arbeitslosigkeit musste er ab 1931 zwei-mal die Woche hier erscheinen. In dieser Zeit wurde das Gebäude fertig, um das Arbeitslosenheer der späten Weimarer Republik ordentlich verwalten zu können. Der Vater brauchte seinen Stempel, um die 14 RM Unterstützung zu bekommen. Davon musste die dreiköpfige Familie leben. Aber er schien nicht ungern dort gewesen zu sein. Er traf Freunde, Leidensgenossen, Fichtesportler, und man diskutierte, hielt große und kleine Palaver. Auf den Gängen war das verboten, aber draußen standen die Diskussionsgruppen zusammen. „Alle in Erwartung der Weltrevolution“, wie die Mutter sarkastisch die väterlichen Erzählungen kommentierte. „Doch die kam nicht, dafür kam Hitler“, pflichtete er ihr bei.
Immer, wenn Gisela an dem viergeschossigen Bau vorbeifährt, denkt sie an den Vater, auch an den Namen „Brüning-Palast“, an diesen Notverordnungskanzler, dem der Bau zu danken war. Sie weiß nicht, ob dieser Name heute noch geläufig ist. In ihrer kindlichen Erinnerung überragt das Gebäude alle anderen Bauten dort rund um die Sonnenallee. Heute verschwindet es fast, die entstandenen Hochhäuser, Wohnsilos aus den siebziger Jahren, die sie schon über die Mauer hinweg vom Bahnhof Plänterwald aus hatte sehen können, und ein erst jüngst errichtetes Hotel überragen längst den denkwürdigen Bau. Sie bedauert, dass sie den Brüning-Palast nicht von innen kennt. Obwohl sie sicherlich nichts versäumt dabei, was sollte ein Gebäude, in dem die Neuköllner Arbeitslosen verwaltet werden, schon Denkwürdiges enthalten. Sie musste für ihren Arbeitslosenstempel nach Adlershof fahren. Als Arbeitslose Ost hatte sie dort ihrer Meldepflicht nachzukommen. Der Vater würde staunen, wie jetzt alles so modern gehandhabt wurde. Nur noch vierteljährliche Meldepflicht. Für Vorrentner wie sie, die dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehen wollten, so umschrieb man die ihr auferlegte Nötigung, entfiel auch das, und Geld, kam verlässlich aufs Konto. Sie schaute mit innerer Befriedigung auf die im Kontoauszug angegebene Summe. Nur einmal kroch in ihr die Ahnung hoch, dass es vielleicht nicht immer so weitergehen musste mit den Zahlungen. Als man das Geld nicht mehr vierzehntägig überwies, sondern erst am Monatsende, für den schon gelebten Monat, stieg ihr die Angst in den Hals, würgte kurz. Nun war sie Rentnerin geworden, brauchte nicht zu fürchten, ausgesteuert zu werden. Sie wusste nicht einmal, ob das heute auch noch so hieß. Aber der Vater hatte jedenfalls