Die neunschwänzige Katze. Kendran Brooks. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kendran Brooks
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738030402
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weil es uns vorgegeben wird, ein Leben, das von anderen gelenkt und bestimmt wird, dem man sich fügen und unterordnen muss. Ein Leben ohne Individualität funktioniert weit schlechter als der kaum organisierte Ameisenhaufen, in dem wir hier im Westen leben. Wenn du versuchst, alle Menschen gleichzuschalten und ihnen den Willen auszutreiben, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen, dann verhinderst du auch fast alle Innovationen.«

      Sheliza sah Henry fragend an.

      »Ich war vor vielen Jahren in Ägypten im Urlaub, genauer gesagt in Assuan. Oft bestieg ich dort eines der Segelboote, die Touristen für ein paar Stunden mieten konnten und die einem von einem Ufer des Nils zum anderen oder auch auf die verschiedenen Inseln brachte. Ich kam mit einigen der Bootsführer, die Englisch oder Französisch sprachen, immer wieder ins Gespräch. Die meisten von ihnen redeten davon, dass sie pro Woche nur an einem Tag, höchstens an zwei Tagen, mit dem Boot am Landungssteg auf Touristen warteten, die übrige Zeit jedoch das Boot von anderen Kapitänen auf deren Rechnung geführt wird. Ich fragte nach und so kam heraus, dass sie ganz einfach keine Lust verspürten, mehr zu arbeiten. Denn ein oder zwei Tage, das genügte ihnen vollauf, um ihre eigene Familie zu ernähren. Arbeiteten sie jedoch mehr und verdienten sie auch entsprechend, dann mussten sie den Überschuss an Verwandte und Nachbarn abtreten, so, wie es der Koran von ihnen verlangt. Der Koran mag sich um die Ärmsten in der Gesellschaft sorgen. Doch er grenzt damit auch viele Möglichkeiten des Wachstums aus, weil sich ein Mehraufwand ganz einfach nicht lohnt.«

      Man sah der Vierzehnjährigen an, dass ihr die Erklärung wenig behagte, sie als einen Angriff auf ihre Religion wertete. Deshalb sprach Henry rasch weiter.

      »Dasselbe geschah in der UDSSR. Dort bestimmte der Staat alles und Kirchen waren dort sogar verboten. Man richtete beispielsweise Sowchosen ein, riesige staatliche Landwirtschaftsbetriebe. Daneben gab es auch Kolchosen, die als Genossenschaft funktionierten und eine bestimmte Menge an Lebensmittel zu staatlich kontrollierten Preisen produzieren mussten. Doch alles, was sie an Überschüssen erzielten, durften Kolchosen frei verkaufen. Die Sowchosen bebauten dreimal mehr Land an als die Kolchosen, produzierten jedoch dreimal weniger Lebensmittel. Die Bäuerinnen der Kolchosen flogen am Wochenende sogar mit Körben voller Gemüse, Fleisch und Salat nach Moskau und nach St. Petersburg auf die Märkte und verkauften dort die Überschüsse ihrer Kolchose, weil auch die Ticketpreise fürs Fliegen vom Staat diktiert wurden und viel zu günstig waren, so dass sich das Fliegen für die Bauern finanziell lohnte. Man muss sich diese Verschwendung an Ressourcen nur einmal vor Augen führen. Auf einem Viertel der Fläche wird doppelt so viel produziert wie auf den restlichen drei und man transportiert kleinste Mengen an Lebensmitteln per Flugzeug in die Städte. Siehst du, worauf ich hinauswill?«

      Sheliza nickte nachdenklich.

      »Ich versteh schon, was du mir klar machen willst, Henry. Und dass der Staat nicht alles zur Zufriedenheit der Menschen regeln und steuern kann. Auch mit dieser Aussage bin ich einverstanden. Doch die Religion? Gibt es denn irgendetwas, das ähnlich wichtig ist, als Allah zu dienen? Oder deinem Gott, wenn du so willst? Was kann es denn daneben wirklich noch Wichtiges geben? Neben dem Dienst zum Wohlgefallen Allahs, meine ich?«

      »Wir sollten diese Diskussion zu Hause fortführen«, warf Holly nun ein, stieg von einem Fuß auf den anderen, spürte die nasse Kälte der hereingebrochenen Nacht.

      »Ja, reden wir nach dem Abendessen weiter«, entschied auch Henry.

      Holly hakte sich bei Sheliza unter und die beiden Frauen gingen voraus, während Henry ein paar Schritte hinter ihnen nachfolgte, seine Augen auf den Rücken der Alawitin gerichtet hielt, mit seinen Gedanken jedoch nicht mehr in London war.

      *

      Im Hause Ling war es Tradition, dass alle Hausangestellten zu Weihnachten ein kleines Geldgeschenk und zusätzlich ein Präsent erhielten. Die Lings waren zwar keine praktizierenden Christen, sondern im konfuzianischen Geiste erzogen, doch als Eigentümer einer erfolgreichen Kette von Restaurants waren die Eltern schon vor vielen Jahren der katholischen Kirche beigetreten, zahlten ihre Steuern, verbuchten sie als Geschäftskosten, begingen alle höheren Feiertage nach Art der brasilianisch-christlichen Tradition.

      Die Familienmitglieder machten jeweils im Vorfeld untereinander aus, welcher der Hausangestellten von wem beschenkt wurde. Und an diesem Morgen war es wieder einmal so weit. Die Angestellten hatten sich in der großen Wohnhalle eingefunden und standen in einer Reihe, während die Familie als Gruppe vor dem riesigen Weihnachtsbaum stand und freundlich, fröhlich, zufrieden oder gönnerhaft verächtlich lächelte. Aílton Santoro stand als Major Domus wie in jedem Jahr ganz rechts außen und ihm wurde vom Hausherrn auch als Erstem die Hand gedrückt. Zenweih Ling fand auch viele lobende und aufmunternde Worte und händigte Aílton ein Päckchen aus. Der nahm es mit steinerner Miene entgegen, bedankte sich ohne Überschwang, sprach danach ebenso hehre und gut gemeinte Worte, wie schön es doch war, für die Familie Ling zu arbeiten. Aufgrund der Größe und des Gewichts des Geschenks rechnete der Major Domus längst mit einer Armbanduhr, hoffte auf eine Marke aus der Schweiz, die sich leicht wieder zu Geld machen ließ.

      Als nächstes trat Frau Ling vor die Köchin Marta Gonzales, bedankte sich bei ihr, sprach über das gute Essen, erwähnte auch die große Party von letztem Monat, an dem das Haus Ling einmal mehr seine Gastfreundschaft unter Beweis gestellt hatte. Auch Marta erhielt ein bunt verpacktes Geschenk. Wohl ein Parfüm oder irgendeine Hautcreme, auf jeden Fall etwas, das einer einfachen Köchin kaum von Nutzen war. Doch Abnehmer gab es für derlei Dinge in ihrer Verwandtschaft zu genüge.

      Auch Carlos Forano, der erst seit drei Wochen für die Familie arbeitete, erhielt den Ritterschlag durch Chen, dem älteren der beiden Söhne. Er überreichte dem Zwanzigjährigen eine ausgesprochen leichte und auch sehr kleine Papiertüte. Eingewickelt in Geschenkpapier würde der Hausdiener wenig später darin ein paar dünne, lederne Handschuhe finden, die er noch am selben Abend an der nächsten Ecke für zehn Real loswurde.

      Nun war endlich Naara an der Reihe und die Hausangestellten fragten sich neugierig, wer von den Lings sich für das Zimmermädchen ins Zeug legen wollte. Als Shamee mit einem spöttischen, aufreizenden Lächeln vortrat, ruckte Naara vor Schreck einen halben Schritt zurück, während die rechte Augenbraue von Aílton nach oben zuckte, Marta ihren Mund aufriss und Carlos erstarrt war.

      Die jüngste der drei Ling Schwestern schritt wie eine Herzogin auf die arme Naara zu, blieb vor ihr stehen, reichte ihr die Hand, ließ sie von der Hausangestellten leicht drücken, sprach über den tollen Einsatz, den sie für die Familie leistete, jedoch in einem theatralisch unwahren Tonfall, überreichte der jungen Frau eine gut dreißig Zentimeter lange, mit Geschenkpapier umwickelte Rolle. Triumphierend drehte sich Shamee zur Gruppe der anderen Familienmitglieder um und reihte sich wieder bei ihnen ein. Vater Zenweih schaute seine Tochter ebenso missbilligend wie Mutter Sihena an, doch das scherte die Siebzehnjährige sichtlich wenig. Die schien sich diebisch auf das dumme Gesicht zu freuen, das die von ihr beschenkte Hausangestellte beim Auspacken machen musste.

      *

      Sie waren nach dem Abendessen von der Wohnküche ins offene Wohnzimmer gewechselt, in dem auch die prächtige, viktorianisch reich geschmückte Tanne stand, die ganz in Gold und Silber gehalten war und eher kleine Kugeln aufwies, dazu lange Perlenketten wie Lametta trug. Offene Kerzen waren gemäß Mietvertrag im gesamten Haus verboten und Henry und Holly hielten sich auch daran, hatten für genügend stromsparende Ketten mit LED-Lämpchen gesorgt, deren Kartonverpackungen ein warmes Licht versprochen hatten. Trotzdem verbreiteten das viele Gold und das Silber einen eher kühlen und wenig gemütlichen Schimmer im Raum. Oder lag es an den Gesichtern der drei, wie sie auf Sofa und Sessel Platz genommen hatten und sich recht ernst anschauten?

      »Man kann jedes der heiligen Bücher auf unterschiedliche Weise auslegen«, knüpfte Henry an die Diskussion vor dem Caviarhouse an, »auch im Buddhismus, Hinduismus oder Christentum gibt es Menschen, die ihr Leben ganz ihrem Gott widmen und beispielsweise Priester, Mönche oder Nonnen werden. Doch das gilt nicht für die Mehrzahl der Bevölkerung.«

      »Aber wie will man sein Seelenheil finden, wenn man sein Leben nicht ganz auf die Gebote seines Gottes ausrichtet? Er schuf uns doch, damit wir ihn lobpreisen und in seinem Sinne unser Leben gestalten?«

      »Du