Dass sie nun stets Handschuhe trug, wenn sie das Haus verließ, war aufgrund der niedrigen Temperaturen im Winter verständlich. Und dass sie die Handschuhe manches Mal selbst im Restaurant nicht ausziehen mochte, lag an den abgeknabberten Fingernägeln, für die sich das Mädchen bestimmt schämte und wofür Holly vollstes Verständnis zeigte. Auch für die zunehmende Rastlosigkeit und Nervosität von Sheliza fanden sich genügend Gründe. Der Prozess gegen ihren Groß-Onkel Jussuf hatte in der Türkei begonnen und er musste mit einer langen Haftstrafe rechnen. Und ihr Kind meldete sich nun regelmäßig mit seinen Bewegungen und leichten Tritten, machte auf sich aufmerksam, reklamierte eine ständige Präsenz. Auch in dieser Beziehung waren Holly und Henry den alawitischen Frauen in der Moschee sehr dankbar, zu der Sheliza hinging, um heimatliche Kontakte zu pflegen. Sie besaßen Kinder und konnten die junge Frau seelisch wohl am besten auf die Geburt vorbereiten.
Eigentlich fühlte sich Familie Huxley Peterson bin-Elik recht wohl und war noch voller Zuversicht.
*
»Das ist sie, die Schlampe.«
Der junge Mann von Mitte zwanzig drückte sich mit den Schultern von der Wand ab, an die er bislang gelehnt war, blickte über die Straße zur anderen Seite hinüber, hatte Shamee Ling fixiert. Neben ihn schoben sich zwei andere junge Männer. Sie grinsten frech und erwartungsvoll.
Zu dritt überquerten sie lässig schlendernd die Straße, reihten sich drüben in der Strom der Passanten ein, behielten das siebzehnjährige Mädchen im Auge, die wenige Meter vor ihnen und nichts ahnend die Auslagen in den Schaufenstern ohne echtes Interesse musterte. Doch vor Cats & Carmike blieb sie plötzlich stehen, sah sich das pinkfarbene Kostüm genauer an. Es kleidete die Schaufensterpuppe perfekt, schmiegte sich eng an ihren kalten, glatten, schmalen Körper, würde sich bestimmt auch wunderbar an dem ihren präsentieren. Rasch entschlossen betrat sie die Boutique, steuerte zielstrebig die junge Verkäuferin hinter dem Tresen an.
»Den taillierten Stretch-Mini im Schaufenster, gibt’s den noch in 34?«
»Das rosafarbene Kleid?«
Shamee nickte ungeduldig.
»Ich schau rasch nach. Bitte, nehmen Sie doch Platz.«
Die Verkäuferin deutete auf das Plüschsofa, das sich mitten im Laden breit machte. Die Siebzehnjährige hob ihr Kinn an und setzte sich vornehm wie eine Fürstin hin, blickte der Angestellten herablassen nach, wie sie zu einem der Kleiderständer ging und das gewünschte heraussuchte. Die Verkäuferin kam zurück und Shamee schnappte sich das Kleid, verschwand mit ihm in einer der Umkleidekabinen. Dort schlüpfte sie aus den Schuhen, zog ihr Wollkleid über ihren Kopf aus, stülpte sich den Stretch-Mini über, zog ihn an ihrem Körper herunter und zupfte ihn zurecht, bis er passte. Die Klingel an der Außentür des Ladens meldete einen neuen Kunden an. Shamee blickte in den Spiegel, verdrehte ihren Oberkörper, machte einen Ausfallschritt, korrigierte den Sitze des Kleides erneut, drehte sich um sich selbst. Es klopfte an der Kabinentür.
»Was ist?«, blaffte sie ungehalten, denn sie war mit sich und dem Minikleid noch nicht im Reinen, denn bei ihr warf es unterhalb der Hüfte ein paar Falten, die ihr wenig gefielen.
»Komm raus«, sagte draußen eine männliche Stimme.
Shamee war irritiert und deshalb sprachlos.
»Wird’s bald?«
Die Stimme schien verärgert.
»Was ist denn los? Lassen Sie mich in Ruhe«, verlangte sie und fühlte sich im enganliegenden Mini-Kleid auf einmal nackt und schutzlos.
Es polterte nun heftiger gegen die Tür.
»Wenn du nicht in einer Sekunde hier draußen stehst, dann erlebst du was.«
Auch wenn die Stimme wütend klang, so konnte ihr hier drinnen doch gar nichts passieren. Shamee hatte nichts verbrochen oder getan. Zumindest redete sich die Siebzehnjährige das ein. Und so sog sie noch einmal mutig geworden die Luft scharf durch ihre Nase ein, drehte danach den Türverschluss und zog sie auf.
»Na also«, wurde sie von einem frech grinsenden Kerl angesprochen, der sie unverschämt anstarrte und sie mit seinen Augen auszuziehen versuchte.
Shamee blickte an ihm vorbei in den Verkaufsraum, suchte mit ihren Augen die Verkäuferin. Doch die war nirgendwo zu sehen. Dafür lümmelten noch zwei weitere junge Männer herum, taten unbeteiligt, schauten sich die Kleider an den Ständern an, zupften an ihnen herum.
»Was wollen Sie von mir?«
Ihre Stimme zitterte leicht und sie biss sich vor Ärger auf die Unterlippe.
»Ich habe Grüße zu bestellen. Grüße an eine Lügnerin«, bekannte der freche Kerl vor ihr. Die junge Chinesin machte große Augen und fühlte, wie die Furcht sie nun erfasste.
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Lassen Sie mich gehen.«
Sie packte ihre Handtasche, wollte barfuß die Kabine verlassen. Doch der Mann vor ihr streckte seine Arme links und rechts aus und blockierte die Türe, lachte dazu laut auf.
»Nur nicht so hastig, du kleine chinesische Schlampe.«
Dann trat er vor, umfasste sie grob, zog sie an sich und drückte seine Lippen auf ihren Mund, versuchte mit seiner Zunge in sie einzudringen. Shamee begann zu kämpfen, doch der Kerl hielt ihr die Arme hinter ihrem Rücken zusammen, drängte sie an die Rückwand der Umkleidekabine. Sie schnaufte heftig durch die Nase, vor Wut, vor Angst, vor Widerwillen. In Panik schnellte ihr Knie hoch und traf den Mann in den Unterleib. Der ließ sie augenblicklich los und krümmte sich stöhnend, während seine beiden Kumpane im Verkaufsraum, die alles beobachtet hatten, zu wiehern begannen und sich vor Vergnügen auf die Schenkel schlugen. Shamee hob ihre Handtasche auf, die ihr vorhin entfallen war und rannte zur Ladentür. Einer der beiden jungen Männer stellte sich jedoch in den Weg, hielt seine Arme ausgebreitet, um sie abzufangen. Sie täuschte einen Durchbruch über die rechte Seite an, drehte sich jedoch im letzten Moment zur anderen Seite um und übertölpelte ihn damit, stürzte mit einem Schrei hinaus auf den Gehsteig, wurde von den Passanten zuerst erschrocken, dann amüsiert gemustert, wie sie barfuß davonrannte. Die drei Männer verfolgten sie nicht, traten selbstbewusst aus dem Laden, nickten sich zu und gingen in der Gegenrichtung davon, der Anführer mit recht steifen Schritten und mit einem säuerlichen, immer noch vor Schmerzen verzerrten Gesicht.
*
Es war eine sehr kleine und im Grunde genommen recht unbedeutende Moschee. Sie lag in der Princelet Street, nahe der Kreuzung mit der Brick Lane, im dritten Stock eines von außen wie von innen unansehnlichen Mietshauses. Sie kam ohne Minarett, ohne Kuppel und ohne Minbar aus, besaß dafür einen Imam mit Namen Chalid al-Muzaffar. Er stammte aus Alexandria, besaß weißes Haar und das Gesicht eines gutmütigen Opas, führte jedoch eine äußerst scharfe Zunge. Darum redeten ihn die meisten Gläubigen mit Saif ad-Din an, als Schwert der Religion. Chalid al-Muzaffar entstammte einer sehr armen Familie von Fellachen, war der fünfte Sohn in einer Reihe von sechs, kam mit neun Jahren zu einem Onkel in die Stadt, der ihn die Schule besuchen ließ, wo er sich auch bald einmal für den Koran begeisterte. Sein Islam Studium an der Al-Azhar Universität in Kairo brach er im fünften Semester ab, verließ die Rechtsschule der Hanbaliten und wurde Salafist, verdingte sich vier Jahrzehnte lang als unwichtiger Imam an verschiedenen Moscheen des Landes, kam erst vor drei Jahren und im Alter von fünfundsechzig nach Großbritannien, baute hier im Auftrag Allahs und mit Geld aus Saudi-Arabien seine Moschee auf. Heute umfasste seine Glaubensgemeinschaft mehr als dreihundert Sunniten und es wurden immer mehr, denn er konnte die Menschen für den Glauben begeistern und ihnen den rechten Weg erklären. Überhaupt sprach er gerne und viel und gehässig über all das, was seiner Meinung nach den sogenannten Westen ausmachte und ein gottgefälliges Leben pervertierte.
Sheliza ging anfangs Februar das erste Mal in diese Moschee, noch scheu und