Kendran Brooks
Die neunschwänzige Katze
9. Abenteuer der Familie Lederer
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Inhaltsverzeichnis
Vorgeschichte
»Du kommst spät.«
Holly Peterson versuchte, ihre Stimme nicht vorwurfsvoll klingen zu lassen, sondern eher gleichgültig, was ihr ganz gut gelang. Sheliza blieb trotzdem im Flur stehen, als wäre sie gegen eine Wand gelaufen, blickte ihre Ersatzmutter wie ertappt an, schaute dann betreten auf die Holzdielen.
»Ja«, bekannte sie stockend, »ich hab nach dem Gebet noch mit ein paar Frauen geplaudert und die Uhrzeit darüber vergessen.«
Sheliza bin-Elik, die Vierzehnjährige aus Syrien geflohene Alawitin, war von Henry Huxley nach London mitgenommen worden. Sie war eine Waise, besaß nur noch ihren Groß-Onkel Jussuf, der jedoch in der Türkei in Untersuchungshaft saß und einer langjährigen Haftstrafe entgegenblicken musste. Darum hatte Henry Huxley das Mädchen nach Großbritannien eingeladen und zu sich nach Hause genommen, doch nicht nur deswegen. Denn Sheliza hatte sich im letzten Sommer in einen sunnitischen Flüchtlingsjungen verliebt und trug seit drei Monaten dessen Kind unter ihrem Herzen. Der zukünftige Vater jedoch wollte weder von der angehenden Mutter noch vom heranwachsenden Baby etwas wissen, verstieß sie beide, wollte um nichts in der Welt die Verantwortung tragen, hatte nach seiner Aussage bloß den Spaß und die Bestätigung seiner Männlichkeit gesucht. Für die so junge Alawitin kam jedoch eine Abtreibung nicht in Frage.
»Ist schon gut«, tröstete Holly Peterson das Mädchen, nickte ihr freundlich lächelnd zu, »ich hatte allerdings gehofft, du hilfst mir beim Backen.«
Weihnachten stand vor der Tür und die Lebensgefährtin von Henry Huxley wollte das erste Mal seit vielen Jahren ein Frohes Fest mit allem Drum und Dran feiern, nun, da sie dank Sheliza unverhofft zu einer kleinen Familie zusammengefunden hatten.
»Bitte entschuldige. War keine Absicht.«
Noch immer sah die junge Alawitin auf den Dielenboden, wirkte jedoch nun nicht mehr demütig, sondern eher trotzig. Vielleicht behagten ihr als gläubige Muslimin die Aussicht auf ein Fest nach christlicher Tradition wenig. Womöglich machte sie sich aber auch bloß Sorgen um ihr Kind, auch um ihre eigene Zukunft. Wer vermochte schon in eine Vierzehnjährige hinein zu blicken?
Endlich nahm sie den Niqab ab, hob danach den Halsausschnitt ihres Abaya über den Kopf und zog ihn über die Schultern vom Körper. Darunter kamen braune Halbschuhe, eine gelbe Stoffhosen und ein dicker, knallroter Wollpullover zum Vorschein, allesamt nicht modisch, auch nicht modern, sondern altbacken langweilig.
Holly hatte einige Versuche unternommen, über die Kleiderfrage näher an die Jugendliche heran zu kommen, sie für sich zu gewinnen, sie auf ihr neues Leben im Westen vorzubereiten. Doch alle ihre Vorschläge und Anregungen fruchtete bislang nicht, schienen eher das Gegenteil zu bewirken, weckten in Sheliza den Trotz, führten bis zur völligen Ablehnung aller westlichen Sitten in Fragen der Kleidung. In Syrien hatte sie sich in ihrer Schulklasse noch geweigert, den Niqab zu tragen. Hier in London war er ihr dagegen Schutz vor einer Umwelt, in der sie sich bislang zwar sicher, jedoch nicht wirklich wohl fühlte.
»Willst du eine heiße Schokolade? Die Plätzchen sind seit einer halben Stunde fertig gebacken und nun genügend abgekühlt.«
Sheliza schüttelte stumm und ablehnend ihren Kopf, sah endlich vom Boden auf und der aparten Britin von Mitte vierzig ins Gesicht.
»Nein danke, Holly. Denn wir essen doch bestimmt gemeinsam zu Abend, sobald Henry zurück ist, oder?«
Henry Huxley verdiente sich sein Geld mit Geheimnissen, genauer gesagt, mit der Auflösung derselben. Seine Einkünfte waren zwar unregelmäßig, doch mehr als ausreichend. So war er, ähnlich wie sein guter Freund Jules Lederer aus der Schweiz, finanziell seit vielen Jahren unabhängig, was nicht bedeutete, dass er seine Leidenschaft mit Mitte sechzig aufgegeben hätte. Doch während die allermeisten Werktätigen zu festen Zeiten ihrer Arbeit nachgingen und ihre Einkünfte im Dienste eines Arbeitgebers oder von Kunden erwarben, traf der Brite seine vielen Kontakte wann immer möglich, gab Informationen weiter, erfuhr neue, hielt so seinen Daumen am Puls der Hauptstadt, an den Kreuzungspunkten ihrer Nervenstränge, wo sich Politik und Wirtschaft allzu oft mit dem Verbrechen trafen.
Sheliza ging in ihr Zimmer, lächelte Holly beim Vorbeigehen wortlos zu.
Die Britin hatte jahrelang unter dem Pseudonym Saxxon Paris als Edel-Escort-Girl gearbeitet, war noch kein Jahr mit Henry Huxley zusammen. Sie war gegen eins achtzig groß, besaß die reifen Formen einer aufregenden Milf, konnte vornehm wie eine Königin auftreten und schreiten wie ein Model auf den Parisern Laufstegen, war intelligent und dazu auch noch klug, verkörperte für viele ihrer früheren Kunden das Idealbild einer Geliebten, zu schön, zu anspruchsvoll, zu anstrengend, um mit ihr ein Leben zu verbringen, jedoch genau richtig für ein paar Tage Ausspannen auf Hawaii oder zwei Wochen Skiurlaub in St. Moritz.
Für Henry sollte Holly ursprünglich einen heiklen Auftrag übernehmen, der jedoch nicht zu Stande kam. Stattdessen verliebten sich die beiden ineinander, zogen wenig später in eine geräumige Wohnung im Stadtteil Mayfair. Die junge Sheliza wollten die beiden so rasch als möglich adoptieren, hatten dazu auch den Segen von Jussuf, ihrem Groß-Onkel, erhalten, mussten sich jedoch erst noch mit den syrischen, türkischen und britischen Gesetzen arrangieren, was wohl noch viele Monate dauern würde. Denn in Syrien war eine Adoption von Muslimen durch Christen verboten, in der Türkei derzeit zumindest theoretisch noch möglich und Großbritannien sah darin keinen Hinderungsgrund. Doch welches Land und welche Rechtsauffassung waren ausschlaggebend für das Schicksal einer jungen Alawitin, die vor dem Bürgerkrieg über die Türkei nach London geflohen war?
Aus dem Zimmer von Sheliza schallte Musik auf den Flur. Auf der Stirn, der immer noch nachdenklich unter der Küchentür stehenden Holly, zeigten sich Furchen und ihre Mundwinkel verhärteten sich. Denn statt Pop, Rock, Country oder Hip-Hop klang wieder diese grässliche orientalische Musik mit heptatonischer Tonleiter an ihre Ohren, dröhnend gespielt von schrillen Schalmeien und dumpfen Trommeln, mit einem arabisch klingenden Singsang, deren Inhalt die Britin nicht verstand, deren harte, abgehackte Vokale in ihr jedoch stets eine gewisse Unruhe erzeugten, ein anschwellendes Unbehagen, wie eine drohende Gefahr, die sich langsam an einen heranschlich, ohne dass man sie bislang klar erkennen konnte.
»Mach dich nicht verrückt«,