Die konvertierte Alawitin hatte ihr auch nicht zu viel versprochen. Denn der so weise und gebildete Geistliche zeigte ein großes Verständnis, hörte sich die Lebenstragödie der Vierzehnjährigen mit sanfter Miene an, dachte lange darüber nach und fand die richtigen Worte, gewann das Vertrauen des Mädchens. Endlich schien Sheliza den Rückhalt im Leben gewonnen zu haben, die starke Stütze aus Stein gehauen, die nicht wankte, die nicht in Frage stellte, die einfach wusste. Al-Muzaffar schien für Sheliza wie ein Segel, das im Wind nicht unnütz flatterte, sondern alle Energie auf das Schiff übertrug und es in zielgerichtete Fahrt brachte.
Von da an fuhr Sheliza jeden Nachmittag gleich nach der Schule mit der U-Bahn nach Eastend, betete zusammen mit sunnitischen Frauen, bereitete sich mit Eifer auf ihre Konvertierung zum sunnitischen Glauben vor.
Zuhause ahnten Holly und Henry noch nichts von ihrer Veränderung, glaubten ihr Pflegekind weiterhin in der alawitischen Moschee in Marylbone, warteten immer noch darauf, dass die Jugendliche die natürlichen Bedürfnisse eines Teenagers anmeldete, ihren Niqab und auch den Hidschab ablegte und sich dem Leben der Hauptstadt Großbritanniens öffnete.
Jules Lederer würde ihnen später Naivität vorwerfen, ein unnötiges, gefährliches Zaudern mit viel zu viel Freiraum und freien Willen für eine Vierzehnjährige.
»Manchmal ist Härte das Richtige«, würde ihm Henry antworten, »und manchmal zerstört Härte all das Gute in einem Menschen, was hätte heranwachsen können.«
*
Shamee kam atemlos zu Hause an, nestelte schon eine Straße vorher den Schlüssel aus ihrer Handtasche, öffnete das Tor und stürzte in den ummauerten Innenhof und weiter zum Wohnhaus, vorbei am verdutzt blickenden Wächter, der ihr hinterher sah, sichtlich irritiert über den verschmierten Mascara und den rot verweinten Augen, aber auch dass sie barfuß und in zerschlissenen Strümpfen ging. Er rief sie noch nicht einmal an, folgte ihr auch nicht, sondern zuckte mit den Schultern, stand von seinem Stuhl auf und ging hinüber zum schmiedeeisernen Tor und schob es zurück ins Schloss. Shamee war längst im Haus verschwunden, stieß dort auf ihre Mutter, sank ihr in die Arme und an die Brust. Sie weinte haltlos, schluchzte zwischendurch laut auf, war unfähig zu sprechen, zitterte am ganzen Körper. Sihena ließ sie ein paar Sekunden gewähren, dann schob sie ihre Tochter von sich weg, hielt sie jedoch an den Oberarmen fest und betrachtete das verzerrte Gesicht, blickte an ihr herunter, auf ihre schmutzigen Füße und die Nylonfetzen der Strümpfe um ihre Knöcheln herum.
»Was ist passiert?«
Ihre Stimme klang gefasst, beinahe kalt, als hätte die Mutter an ihrer Tochter nur die Zeichen erkannt, die sie längst schon erwartet hatte und darum nur noch nach Bestätigung verlangte.
Shamee schluchzte und weinte immer noch, fand nur langsam zu ihrer Fassung zurück.
»Da waren drei Männer«, jammerte sie los, »die tauchten plötzlich in der Boutique auf.«
»Und was wollten sie?«
Ihre Jüngste stockte, dachte nach, versuchte sich zu erinnern.
»Der eine sprach von Grüßen, die er auszurichten hätte. Und er nannte mich eine Lügnerin.«
»Und dann?«
»Er wollte mich vergewaltigen. Jedenfalls stürzte er sich auf mich. Ich konnte ihm aber mein Knie in den Unterleib rammen und fliehen.«
»Und deine Schuhe?«
»Die sind noch im Laden.«
Ihre Mutter hatte das Etikett entdeckt, das immer noch am anprobierten Stretch-Mini hing, fasste danach und drehte es zu sich um.
»Vierhundertneunundachzig? Für diesen Fetzen?«, meinte sie tadelnd, als sie den Preis las.
Shamee sah ihrer Mutter in die Augen und erkannte darin die Härte. Wie erschrocken trat sie einen Schritt zurück, blickte weiterhin die Frau an, die sie vor siebzehn Jahren geboren hatte, suchte in ihrem Gesicht nach Verständnis und nach Wärme. Doch stattdessen spürte die Jüngste der Ling Schwestern zuerst einen kalten Schauder, der ihr über den Nacken den Rücken hinunterkroch und gleich danach einen heißen Stolz, der sich in ihrer Brust regte und sie wütend und aggressiv machte. Ohne ein Wort zu verlieren drehte sie sich um und rannte die Treppe hoch in ihr Zimmer. Sihena stand immer noch unten am Treppenabsatz, mit unverändert hartem Gesicht. Ihre schmalen, purpurrot und exakt bemalten Lippen lagen wie ein waagerechter Strich unter ihrer kleinen Nase. Ihr rechter Mundwinkel zuckte zweimal, vielleicht verächtlich, womöglich aber auch zufrieden.
*
Sie fuhren in den Sportferien zum Skifahren nach Zermatt, buchten für eine Woche das Grace Chalet der Elysian Collection, das einen 7-Sterne-Service anbot. Alina ging morgens in die Skischule, während Jules und Alabima meistens mit der Bahn hoch zur Furi fuhren und sich erst dort für eines der Gebiete rund ums Matterhorn entschieden. Den Nachmittag verbrachten sie entweder mit ihren Davosern auf einer der Schlittenbahnen oder sie packten ihre Schlittschuhe aus und gingen zur Kunsteisbahn, versuchten sich dort auch einmal im Eisstockschießen. Es waren Familienferien, ohne Stress und ohne Termine.
Alabima hatte sich schon im ersten Jahr in der Schweiz auf Skiern versucht, fuhr längst besser als Jules, der sich eigentlich nie für diesen Sport begeistern konnte, auch wenn er die Bergwelt liebte. Doch dem stupiden auf den Hügel hochfahren lassen und danach die Hänge hinunter wedeln, nur um wieder in die Schlange der Wiederholer einzutreten und sich erneut zur Bergstation führen zu lassen, hatte er selbst als Jugendlicher wenig abringen können. Zu viel Prestige, zu viel Show, zu viel Oberflächlichkeit und vor allem viel zu viel Gedränge, Geschubse und Anstehen, ob am Sessellift, der Kabinenbahn oder in der Skihütte fürs Mittagessen. Doch Alina fand viel Spaß am Schneesport und so fügte sich der Schweizer einmal im Jahr den Mehrheitsverhältnissen in seiner Familie, zumindest für eine kurze Woche.
Für den Mittwochabend hatten sie sich über den Chalet-Butler einen Tisch in einem der derzeit angesagten, völlig überteuerten Gaststätten reservieren lassen, waren gegen halb acht eingetroffen, wurden von einem hochnäsigen Idioten am Eingang für drei Minuten stehen gelassen, weil der sich erst erkundigen wollte, ob ihr Tisch auch wirklich bereit für sie stand. Alabima sah Jules an, wie der sich innerlich von Sekunde zu Sekunde weiter auflud und wohl in Kürze die nötige Spannung für eine kräftige Entladung erreichen würde.
»Calm down«, flüsterte sie ihm zu, »take it easy.«
Auch Alina schaute ihrem Vater von unten herauf forschend ins Gesicht, erkannte die pulsierende Ader an seiner linken Schläfe und den verbiesterten Mund, auch wie seine Lippen zuckten und so anzeigten, wie es in ihm arbeitete.
»Kommt wir gehen«, meinte Jules nach zwei Minuten, wurde von der beschwichtigenden Hand seiner Gattin noch einmal zurückgehalten, hielt auch wirklich inne, blieb jedoch unschlüssig. Doch dann begann sein Kopf nervös herum zu ruckeln, so als könnte dies irgendeinen internen Prozess in diesem Restaurant beschleunigen.
»Was stört es uns, wenn wir noch einen Moment lang auf unseren Tisch warten müssen? Wir sind eh früh dran«, tröstete Alabima.
»Nicht mal eine anständige Bar haben sie in