Tag 1 - Als Gott entstand. Stefan Koenig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Koenig
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Философия
Год издания: 0
isbn: 9783742724809
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Hartnäckigkeit fort. Es vergingen ein, zwei, drei Jahre, aber das verschwundene Zwischenglied war noch immer nicht gefunden. Jeder andere hätte die vergebliche Suche längst aufgegeben. Dubois plagten zwischenzeitlich Zweifel. Aber er gehörte nicht zu den Menschen, die sich von einmal gefassten Entschlüssen so leicht abbringen lassen.

      Da Dubois den Pithekanthropus in Sumatra nicht fand, beschloss er, sein Glück auf einer anderen Insel des Malaiischen Archipels zu versuchen – auf Java.

      Und hier hatte er endlich Glück.

      Unweit des Dorfes Trinil fand er eine Schädeldecke, den Rest eines Unterkiefers, einige Zähne und einen Schenkelknochen des Pithekanthropus. Später wurden noch einige Fragmente von Schenkelknochen gefunden. Dubois versuchte, das Gesicht seines Ahnen zu rekonstruieren und man erkannte eine niedrige, nach hinten fliehende Stirn, dicke Augenbrauenbögen, unter denen die Augen geschützt lagen. Dieses Gesicht ähnelte eher dem eines Affen als dem eines Menschen – aber es war eben auch kein „reines“ Affengesicht mehr. Die nähere Untersuchung der Schädeldecke überzeugte ihn davon, dass der Pithekanthropus klüger gewesen sein musste als ein Affe: sein Gehirn war wesentlich größer als das Gehirn der dem Menschen am nächsten stehenden Affen.

      Ein Schädeldach, Zähne, einige Knochentrümmer – das ist nicht viel. Und doch gelang es Dubois, aus diesen Bruchstücken vieles zu rekonstruieren – und er wurde später durch weitere Funde, durch andere Expeditionen und Forscher in allem bestätigt. Die heutige DNA-/RNA-Forschung bestätigt all diese „Hardware“-Funde. Als Dubois den Schenkel und die kaum sichtbaren Ansatzstellen der Muskeln und Sehnen untersuchte, kam er zu dem Schluss, dass der Pithekanthropus zur Not auf zwei Beinen zu gehen vermochte. Das ist schon kein Affe mehr, aber auch noch kein richtiger Mensch. Dubois beschloss, seinem Findling einen Namen zu geben und taufte ihn: „Pithekanthropus erectus“, der Aufrechte. Im Vergleich mit den Affen ging er tatsächlich – wie sich im Fortgang der Funde bestätigte – aufrecht.

      Das Ziel schien erreicht. Pithekanthropus war gefunden. Aber nun begannen gegen Ende des 19. Jahrhunderts für Dubois erst die schwierigsten Tage und Jahre. Es ist leichter, sich durch eine zähe Lehmschicht hindurch zu graben, als die Zähigkeit menschlichen Aberglaubens und menschlicher Vorurteile mit Jahrtausende alter Prägungs- und Glaubenstradition zu durchdringen. Alle jene, die nicht anerkennen wollten, dass der Mensch vom Affen abstammt, begegneten Dubois‘ Entdeckung mit zahlreichen Einwänden. Archäologen in Priesterröcken suchten zu beweisen, dass der Schädel, den Dubois gefunden hatte, dem Gibbon-Affen gehöre und dass der Schenkel der eines gewöhnlichen Menschen sei. So verwandelten Dubois‘ Gegner den Affenmenschen in die arithmetische Summe eines Affen und eines Menschen, und selbst dabei ließen sie es nicht bewenden. Sie zogen das Alter des Fundes in Zweifel und behaupteten, die von Dubois gefundenen Knochen hätten nicht viele hunderttausend, sondern nur wenige Jahre in der Erde gelegen. Mit einem Wort, man tat alles, um den Pithekanthropus aufs Neue zu begraben, ihn wieder in die Erde einzuscharren und der Vergessenheit anheimfallen zu lassen.

      Dubois verteidigte sich tapfer. Diejenigen, denen die Bedeutung seiner Entdeckung für die Wissenschaft einleuchtete, unterstützten ihn. Er antwortete seinen Gegnern, dass der Pithekanthropus-Schädel keineswegs dem Gibbon gehören könne: der Gibbon besitzt keine Stirnhöhlen. Beim Pithekanthropus aber sind sie vorhanden.

      Die Jahre vergingen, und die Echtheit des Pithekanthropus wurde noch immer bezweifelt. Da fanden die Naturwissenschaftler plötzlich einen neuen Affenmenschen, ganz ähnlich dem Pithekanthropus. 1912 ging ein Naturforscher durch die Straßen Pekings; er trat in eine Apotheke, um die chinesischen Arzneien kennen zu lernen. Da lagen auf dem Ladentisch sehr sonderbare Sachen: eine Heilwurzel, ganz ähnlich einer menschlichen Figur, die Zähne verschiedener Tiere und allerlei Knochen und Amulette. Unter den Knochen fand der Gelehrte einen Zahn, der keinem Tier gehören konnte, sich aber gleichzeitig von den Zähnen des heutigen Menschen unterschied.

      Der Mann kaufte den Zahn und sandte ihn einem europäischen Museum. Dort trug man diesen Fund in den Katalog ein, unter der sehr vorsichtigen Bezeichnung: „Chinesischer Zahn.“

      Wieder waren mehr als zwanzig Jahre vergangen, als man in einer Höhle in der Nähe von Peking zwei weitere Zähne fand und schließlich auch ihren Besitzer, den die Naturwissenschaft Sinanthropus nannte. Man fand ihn nicht in einem Stück, sondern als einen Haufen verschiedenartigster Knochen. Hier einige Dutzend Zähne, drei komplette Schädel, elf Kiefer, das Stück eines Schenkels, dort ein Wirbel, ein Schlüsselbein, ein Handgelenk, das Stück eines Fußes.

      Das bedeutet natürlich nicht, dass der Bewohner jener Höhle drei Köpfe und nur einen Fuß besaß.

      In der Höhle lebte vielmehr nicht nur ein einzelner Sinanthropus, sondern eine ganze Horde. In weit über einhunderttausend Jahren gingen viele Knochen verloren, wurden von wilden Tieren verschleppt. Aber auch die restlichen Knochen genügten, um sich ein Bild vom Aussehen des Bewohners zu machen: Gib den Naturwissenschaftlern einen Finger, sie machen daraus den ganzen Menschen.

      Wie sah unser Held in jener längst vergangenen Epoche seines Lebens aus? Jedenfalls war er nach heutigen Maßstäben keine Schönheit (schon gar, wenn wir Heidi Klum zu Rate ziehen). Wäret ihr ihm begegnet, ihr wärt vor Entsetzen zurückgewichen, so sehr glich dieser Mensch einem Affen, vornübergebeugt, mit wildem Gesicht und herabhängenden zottigen Armen. Aber wenn ihr ihn auch im ersten Augenblick für einen Affen gehalten hättet, wärt ihr euch bald über euren Irrtum klar geworden: Der Affe hat keinen solchen aufrechten, menschlichen Gang, kein so menschenähnliches Gesicht.

      Endgültig schwinden alle Zweifel, wenn man dem Sinanthropus zu seiner Höhle folgt: Da humpelt er plump auf seinen krummen Beinen am Rand eines Flusses entlang. Plötzlich setzt er sich auf den Sand. Ein großer Stein hat seine Aufmerksamkeit erregt. Er hebt ihn auf, betrachtet ihn, schlägt mit ihm gegen einen anderen Stein. Dann steht er auf und nimmt seinen Fund mit sich. Wir folgen ihm und klettern auf das steile Ufer. Da, beim Eingang zur Höhle, sind alle Bewohner versammelt. Sie drängen sich um einen bärtigen, zottigen Alten, der mit einem steinernen Werkzeug eine Antilope ausweidet. Einige Frauen neben ihm zerreißen das Fleisch mit den Händen, Kinder erbetteln davon ein paar Stücke. Und der Schein eines Lagerfeuers, das im Hintergrund der Höhle brennt, beleuchtet die ganze Szene.

      Nun muss jeder Zweifel schwinden: Könnte ein Affe ein Feuer entzünden und ein steinernes Werkzeug gebrauchen?

      Aber der Vorlesungsteilnehmer hat ein Recht zu fragen, woher man denn weiß, dass der Sinanthropus den Gebrauch der Werkzeuge und des Feuers kannte. Darüber gibt uns die Höhle Auskunft. Bei den Ausgrabungen fand man nicht nur Knochen, sondern auch vieles andere: eine dicke Schicht Asche, vermischt mit Erde, und einen Haufen grober, steinerner Werkzeuge. Mehr als zweitausend Werkzeuge waren da, und die Aschenschicht war sieben Meter dick.

      Man sieht, dass die Sinanthropus-Herde lange Zeit in der Höhle lebte und dass sie das Feuer während vieler Jahre – vielleicht sogar Generationen übergreifend während vieler Jahrzehnte – unterhalten haben musste. Offenbar war der Sinanthropus noch nicht imstande, selbst Feuer zu machen, sondern er sammelte es, genauso, wie er Wurzeln zum Essen und Steine für seine Werkzeuge sammelte. Irgendwo bei einem Waldbrand konnte er das Feuer finden. Der Sinanthropus nahm einen glimmenden Ast und trug ihn behutsam nach Hause. Und hier, in der Höhle, geschützt vor Regen und Wind, bewahrte und hütete er das Feuer als größte Kostbarkeit.

      Unser Protagonist nahm den Stein oder den Stock in die Hand. Dadurch wurde er mit einem Mal kräftiger und unabhängiger. Nun war es nicht mehr so wichtig, dass er sich in der unmittelbaren Nähe eines Obst- oder eines Nussbaumes aufhielt. Er entfernte sich auf der Nahrungssuche von seinen heimatlichen Plätzen, suchte immer neue Umgebungen auf, verweilte in waldlosen Gebieten und kostete alles Mögliche, um dabei vielleicht etwas Genießbares und Schmackhaftes zu finden.

      So verletzt der Mensch am Beginn seines abenteuerlichen Daseins alle Regeln, die sonst in der Natur gelten. Er verletzt die Regeln seines ursprünglichen „Paradieses“ … ein Paradies, das ihn bis dahin – wie alle Tiere – in unsichtbaren Fesseln gefangen gehalten hatte. Der Waldbewohner steigt von den Bäumen und fängt an, auf der Erde zu laufen. Außerdem hebt er sich auf die Hinterbeine und beginnt zu gehen. Sogar mit der Nahrung, die ihm bislang zustand, begnügte er