Sogar lebende Gefäße gibt es bei den Ameisen. Eine Ameisensorte hat die Keller ihres Baus voller lebender Fässer. In einem dunklen, niedrigen Erdgewölbe hängen in dichten Reihen, unter der Decke, richtige Fässer. Sie sind unbeweglich. Da kommt eine Ameise in das Gewölbe gekrochen und trommelt mit ihren Fühlern gegen eines der Fässer: Das Fass wird lebendig und beginnt sich zu bewegen. Es zeigt sich, dass das Fass einen Kopf, eine Brust und Beine hat, dass es nichts anderes ist als das riesige, aufgeblasene Bäuchlein einer Ameise, die sich an den Querbalken der Decke anklammert. Sie öffnet die Kiefer, und aus ihrem Mund tritt ein Honigtröpfchen. Die Ameisenarbeiterin, die gekommen ist, um sich zu stärken, leckt dieses Tröpfchen ab und geht wieder an ihre Arbeit. Das Ameisenfass schläft im Kreise der übrigen Fässer wieder ein.
Eine buchstäblich „lebendige“ Technik hat die Ameise in Jahrmillionen entwickelt – aber sie verwendet eben keine künstlichen Werkzeuge und Geräte wie der Mensch, sondern natürliche, die sie ständig mit sich herumträgt.
Auch der Biber benutzt lebende Werkzeuge. Er fällt die Bäume nicht mit einer Axt, sondern mit seinen Zähnen. Ameise und Biber verfertigen sich also nicht ihre Werkzeuge, sie werden vielmehr mit einer kompletten Werkzeugausrüstung geboren – wie alle anderen Tiere, wie unsere engen Verwandten, die Schimpansen und die anderen Affenarten. Wie auch wir einmal geboren worden waren.
Auf den ersten Blick erscheint es gewiss bequem: Ein lebendes Werkzeug kann man nicht verlieren. Aber wenn man überlegt, wird jedem klar, dass ein solches Instrument unvorteilhaft ist. Man kann es nicht verbessern, austauschen oder umändern. Der Biber kann seine Schneidezähne nicht zur Reparatur bringen, wenn sie vom Alter stumpf geworden sind. Und er kann die Werkstatt seiner Nachkommen auch nicht erweitern, indem er seine „Lebend-Werkzeuge“ weiter vererbt. Jeder Nachkomme kommt immer wieder mit den gleichen „Lebend-Werkzeugen“ zur Welt. Und die Ameise kann sich in keiner Werkstatt ein neues, vervollkommnetes Bein bestellen, um bequemer und schneller in der Erde zu graben.
Stellen wir uns vor, der Mensch hätte ebenso wie die anderen Tiere nur angeborene Werkzeuge, nicht solche aus Holz, Eisen und Stahl. Da könnte er weder ein neues Werkzeug erfinden noch das alte umändern. Um einen Spaten zu haben, müsste er mit einer spatenähnlichen Hand geboren werden. Das ist ein ganz grotesker Gedanke. Aber nehmen wir trotzdem an, dass solch eine Fehlgeburt zur Welt käme. Gewiss, sie würde einen ausgezeichneten Erdarbeiter abgeben. Aber dieses Wesen könnte seine Fertigkeiten niemals auf einen anderen übertragen, so wie niemand seine guten Augen einem anderen leihen kann. Seine Spatenhand müsste der Mensch immer bei sich tragen, und sie würde gewiss zu nichts anderem taugen als zum Graben. Und wenn das Ende seiner Tage käme, so wären auch die Tage des Spatens gezählt. Man müsste beide miteinander begraben.
Dieser geborene Erdarbeiter könnte den Spaten nur dann seiner Nachkommenschaft übergeben, wenn einer seiner Enkel oder Urenkel diese „Hand“ von ihm erben würde, so wie man die Haarfarbe oder die Form der Nase erbt. Das ist übrigens noch nicht alles. Ein lebendes Werkzeug kann sich nur dann bei einer Art erhalten, wenn es für das Tier nützlich und nicht schädlich ist. Wenn die Menschen wie Maulwürfe in der Erde lebten, dann brauchten sie wohl Spatenpfoten. Aber für ein Wesen der Erdoberfläche wäre solch eine Pfote ein überflüssiger Luxus. Um ein neues Werkzeug zu schaffen – ein lebendiges, natürliches, wohlverstanden –, wären Millionen Jahre währende übermäßige „Anstrengungen“ der Natur nötig.
Glücklicher- (oder zufälliger-)weise ist der Mensch einen anderen Weg gegangen. Er hat nicht gewartet, bis sich ihm ein Spaten an Stelle der Hand entwickelte. Er hat sich den Spaten selbst gemacht, und nicht nur Spaten, sondern auch Messer, Äxte und noch viele andere Werkzeuge bis hin zur Mikrochiptechnik. Den von seinen Vorfahren übernommenen zwanzig Fingern und Zehen und zweiunddreißig Zähnen hat der Mensch noch Tausende der verschiedenartigsten künstlichen Finger, Schneidezähne, Eckzähne, Krallen und Fäuste hinzugesellt – lange, dicke und dünne, scharfe und stumpfe, stechende, schneidende und schlagende. Und letztlich hat er mit der Computertechnik seine Gehirnarbeit erleichtert und erweitert.
Das ist es, was ihm jene Überlegenheit über die anderen Tiere gegeben hat, so dass sie mit ihm überhaupt nicht mehr konkurrieren können.
Hier beenden wir die dritte Vorlesung. Wir nähern uns etappenweise dem Ziel, um das Hauptthema nicht mit unnötigen Rückblicken zu belasten und die scheinbar wichtigsten Fragen endlich aufzuwerfen und in der Diskussion zu beantworten: Woher kam Gott? Wo war er vor dem Menschen? Wer hat ihm den Namen Gott verliehen? Und warum? Wir diskutieren die Zählebigkeit Jahrtausende lang gelebter Traditionen und psychosozialer Prägungen; wir diskutieren über die Entwicklung des Sprechens und Denkens, also über die Entwicklung des menschlichen Gehirns und betreten irgendwann im Laufe unserer Vorlesungen jene Epochen, in dem sich der (vorläufig) „voll entwickelte“ Mensch vor 4000 Jahren der Arithmetik, Philosophie, der Medizin und den Göttern zuwendet und irgendwann viel später das erste Geschichtsbuch namens Bibel geschrieben wird. Draußen vor der Tür unsrer vierten Vorlesung warten bereits ungeduldig die Ägypter, Griechen und Römer. Sie haben schon ihre Eintrittskarten – und drängeln trotzdem.
In der Vorlesung 4 versuchen wir, über die Entwicklungskette „Pithekanthropus-Sinanthropus-Heidelberger Mensch“ die wichtigsten Etappen zu bezeichnen. Wir berichten über die Entdeckung der „Zeit“. Über das Nahen des Eises. Über den Untergang der Wälder – und wie der Mensch dem Chaos der Natur entkam: dank seiner Werkzeuge, dank jener Begriffe, die wir heute so selbstverständlich nutzen: Arbeit – Ziel – Plan.
Vorlesung 4
In der ersten Zeit, als der Mensch gerade begann, Mensch zu sein, stellte er noch nichts her und produzierte nichts, sondern sammelte sich seine steinernen Krallen und Zähne, so wie wir heute Pilze und Beeren sammeln. Auf den Sandbänken der Flüsse suchte er sich Steine, scharfe, abgeschliffene, von der Natur selbst gedrechselte Steine.
Man findet solche „natürlichen“ Werkzeuge an Stellen, wo sich ein Steinhaufen dröhnend in einem wilden Wasserwirbel gedreht hatte, wie eine riesige Kinderklapper, so dass die Steine zerkleinert und geschliffen wurden. Natürlich kümmerte es den Wasserwirbel wenig, ob seine „Arbeit“ irgendeinen Sinn hatte, daher waren unter Hunderten von Steinen, die die Natur bearbeitete, nur sehr wenige, die dem Menschen nützlich sein konnten. Da begann der Mensch selbst herzustellen, was er brauchte – er fing an, sich Werkzeuge zu machen.
Hier geschah zum ersten Mal etwas, was sich später in der Geschichte der Menschheit oft wiederholte: Natürliches ersetzte der Mensch durch Künstliches. In einer Ecke der großen Werkstatt Natur richtete der Mensch seine eigene Werkstatt ein, um immer neue Dinge herzustellen, die es in der Natur nicht gibt. So war es mit den steinernen Werkzeugen, so war es auch später – nach Tausenden von Jahren – mit dem Metall: Anstatt reines Metall zu benützen, das nur schwer zu finden ist, schmolz der Mensch es mit Hilfe des Feuers aus den Erzen heraus. Jedes Mal, wenn er dazu überging, das Vorgefundene durch Schöpfungen seiner eigenen Hände zu ersetzen, machte der Mensch einen neuen Schritt zur Freiheit, zur Unabhängigkeit von der harten Gewalt der Natur. Der Mensch entwickelte sich so wie sich alle Lebewesen ihren natürlichen Lebensräumen entsprechend entwickelten.
Zunächst vermochte der Mensch noch nicht, sich das Material für seine Werkzeuge selber herzustellen. Er gab dem Material, das er fertig in der Natur vorfand, nur eine neue Form. Er nahm den Stein in die Hand und schlug ihn sich mit einem anderen Stein zurecht. So entstand das, was die Archäologen „Faustkeil“ oder „Schlegel“ nennen. Ein solches Werkzeug eignete sich zum Hämmern. Auch die Splitter waren nützlich. Mit