Einst dachten die Ägypter, ihr Fluss sei der einzige der Welt. Dieser Fluss floss von Süden nach Norden, und so glaubten sie denn, anders könne es gar nicht sein. Wenn sie „Norden“ schreiben wollten, zeichneten sie ein Schiffchen, das ohne Segel mit der Strömung trieb. Um „Süden“ auszudrücken, machten sie ein Schiffchen mit Segel, das gegen die Strömung fuhr.
Dann aber verließen sie ihre enge Heimat. Sie erblickten andere Flüsse, sie kamen bis an den Euphrat. Und es erwies sich, dass der Euphrat keineswegs wie ihr heimatlicher Strom floss: nicht von Süden nach Norden, sondern von Norden nach Süden. Diese Entdeckung verwunderte die Ägypter dermaßen, dass sie beschlossen, sie für ewige Zeiten zur Belehrung der Nachkommen aufzuzeichnen. Auf Befehl des Pharao Thutmosis I. wurde auf einem steinernen Grenzpfahl eingeritzt, dass „das Wasser des Euphrat sich rückwendend stromaufwärts“ fließe.
Vieles setzte die Ägypter in Verwunderung, sobald sie sich jenseits der Grenzen ihrer gewohnten Welt – im Makrokosmos – befanden. Sie waren daran gewöhnt, dass der Fluss ihre Felder berieselte. In Ägypten ist Regen äußerst selten. Und ohne die Überschwemmungen des Nils hätte sich das Land schon längst in eine Wüste verwandelt. Doch nun waren sie in fremden Ländern gewesen und hatten dort zu ihrem Erstaunen gesehen, dass die Felder nicht vom irdischen Nil, sondern von einem himmlischen Nil bewässert wurden, womit sie den Regen bezeichneten. Für uns ist der Regen die allergewöhnlichste Sache. Für sie aber war er ein wunderbarer Fluss, der vom Himmel niederstürzte.
Immer weiter rückten die Ägypter ihre Grenzpfähle. Die Beschriftung dieser Pfähle preist die Pharaonen, denen „die Erde in der Länge und in der Breite, von Westen nach Osten untertan ist“. Doch je mehr sich die Grenzen der den Ägyptern bekannten Welt weitete, desto klarer wurde ihnen, dass sie nicht die einzigen und wohl auch nicht die besten Menschen der Welt waren. Ihre Gesandten hatten die mächtigen Mauern Babylons erblickt, die so breit waren, dass ein Viererzug auf ihnen fahren konnte. Sie hatten dort hoch über der Erde an Säulen hängende Gärten gesehen. In diesen wie in der Luft schwebenden Gärten wuchsen hohe Bäume, und in den Teichen schwammen Schwäne.
Neugierig schauten die Gesandten auf die vielstufigen babylonischen Tempel, die sich über der Stadt erhoben. Die Ägypter waren stolz auf ihre Gelehrsamkeit. Doch hätten sie bei den Priestern Babylons noch viel lernen können. Und die Ägypter lernten auch die Achtung vor den Fremden, ihren Gebräuchen und ihrem Glauben. Es kam schließlich so weit, dass die Pharaonen, die bisher nur ihre leiblichen Schwestern geheiratet hatten, sich Bräute unter den ausländischen Prinzessinnen suchten. Eine Tempelinschrift berichtet, wie – ungeachtet des Unwetters, der Schneestürme, die im nordischen Lande wüteten – die Prinzessin der Hettiter sich nach Ägypten begab, um die Gemahlin des Pharao zu werden.
Wie lange war es her, da staunten die Ägypter noch darüber, dass der himmlische Nil die Felder bewässerte; nun aber erfuhren sie, dass es auch Länder gab, wo vom Himmel nicht nur Regen, sondern auch Schnee auf die Erde niederfiel.
Die Menschen sahen das Neue und lernten auf neue Art denken. Denken aber bedeutete damals glauben: Die Kenntnisse und Erfahrungen waren noch eng verflochten mit der Religion. Die Religion legte über Jahrtausende den wichtigen Grundstein für die späteren wissenschaftlichen Erkenntnisse. Deshalb sitzt der Religionsgedanke seit abertausenden von Jahren fest im Gedächtnis der Menschheit. Die religiösen Wissensträger waren die ersten Entwickler naturwissenschaftlicher Grunderkenntnisse.
Einst hatte jede Stadt ihren Gott. Dieser Gott-Vorvater und Gott-Beschützer liebte nur sein Volk und half den Seinigen, die anderen zu unterwerfen. Doch nun fallen die Mauern, die Stadt von Stadt, Stamm von Stamm trennen. „Die Eigenen“ und „die Fremden“ treffen zuerst zwar feindselig aufeinander, dann aber immer friedlicher. Noch kommen sie häufig genug noch auf dem Schlachtfeld zusammen, aber dann immer mehr auf dem Marktplatz, im Hafen und an Tagen feierlicher Umzüge vor dem Tempel. In der Menge begegnen sich Leute, die verschiedene Sprachen sprechen, verschiedene Götter anbeten. Verwundert schauen sie ins Antlitz des fremden Gottes und finden darin vertraute Züge. Im ägyptischen Osiris erkennen die Phönizier ihren Adonis – den Gott der sterbenden und immer wieder auferstehenden Natur.
Jeden Frühling formt man in Ägypten eine Kugel aus Papyrus. Das ist der Kopf des Gottes Osiris, den der böse Gott Set erschlagen hat. Den Kopf des Gottes schickt man übers Meer nach Phönizien; dort wird er von klagenden Frauen in Empfang genommen. Adonis-Osiris feiert Auferstehung, und das Volk feiert den Frühling, den Feiertag der allen Völkern gemeinsamen Auferstehung. Man glaubt nun nicht mehr nur an den eigenen, sondern auch an fremde Götter. Der Herrscher von Babylon schickt eine Statue der Göttin Astarte nach Ägypten, und dazu schreibt er dem Pharao: »So spricht Astarte von Ninive, die Herrin aller Länder: ‚Ich gehe nach Ägypten, dem Land, das ich liebe‘«.
Es fehlt nicht mehr viel, und die Menschen werden beginnen, zu einem Weltengott zu beten, dem Beschützer aller Völker. Der ägyptische Pharao Echnaton baut einen Tempel für diesen neuen Gott und preist ihn mit der begeisterten Hymne: „Herrlich ist dein Aufgang, o Herr der Welten! Deine Strahlen erleuchten die ganze Menschheit. Wenn du deine Strahlen schickest, jubeln alle Länder.“
Es war einmal eine Zeit, da glaubten die Ägypter noch, die Sonne scheine nur für sie. Doch die Welt öffnete sich vor ihnen, und sie sahen, dass die Sonne auch den entferntesten Völkern noch scheint: „Du gabst Leben auch den fernsten Ländern. Du gabst ihnen den Nil vom Himmel.“ Die Ägypter hatten früher geglaubt, sie allein seien die richtigen Menschen, und Gott hasse die Fremdlinge. Doch nun hatten sie die Fremdlinge näher kennen gelernt. In Ägypten selbst gab es nun schon mehr Fremdstämmige als Ägypter. Fremdländische Krieger begleiteten den Triumphwagen des Pharao. Und fremdländische Gäste begehrten Waren aus fernen Ländern.
„Die Zungen, welche die Völker reden, gleichen sich nicht, auch die Farbe ihrer Haut ist nicht gleich … Du aber gibst einem jeglichen seinen Platz und schickst ihm, was er braucht …“ – Für jedes Volk ist Platz auf der Erde, welche Sprache es auch immer spricht. Das hatte der Pharao Echnaton schon vor dreitausenddreihundertfünfzig Jahren verstanden. Und das verstehen jene, die Hass und Verachtung gegen andere Völker, andere Sprachen, andere Hautfarben predigen, bis heute nicht – oder vielmehr, sie wollen es nicht verstehen.
Zur Zeit Echnatons jedoch waren die Wände der Welt bereits so weit auseinandergerückt, dass man von den Ufern des Nils die fernen Länder sah. Und an den Mauern der ägyptischen Tempel erschien zum ersten Mal das Wort „die Menschheit“.
Doch leider sahen nicht alle so weit wie Echnaton.
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