Aber da war nichts zu machen. Der Hunger jagte unsere Vorfahren von den Bäumen. Immer häufiger mussten sie auf die Erde steigen und dort auf Nahrungssuche gehen. Was bedeutet es aber für ein lebendiges Wesen, aus seinem gewohnten Käfig heraus zu treten, aus der Welt des Waldes, an die es sich Jahrtausende lang angepasst hat?
Es bedeutet die Durchbrechung der Gesetze des Waldes, die Zerreißung der Ketten, die das Tier an seinen Platz in der Natur fesseln.
Gewiss verändern sich auch Land- und Wassertiere und Vögel. Nichts in der Welt ist unveränderlich. Aber es ist nicht so einfach, sich zu verändern. Millionen Jahre vergingen, ehe jenes Waldtierchen mit den Krallen an den Pfoten zum Pferd wurde. Jedes Kind unterscheidet sich nur wenig von seinen Eltern. Viele Generationen sind nötig, damit sich eine neue Art bildet, die sich von der früheren unterscheidet.
Nun, und unsere Vorfahren?
Wenn es ihnen nicht gelungen wäre, ihre Tätigkeiten und Gewohnheiten zu ändern, so wären sie genötigt gewesen, gemeinsam mit den Affen nach Süden zu ziehen. Zu jener Zeit aber unterschieden sie sich von den Affen schon dadurch, dass sie sich ihre Nahrung mit Hilfe von künstlichen „Eckzähnen“ und „Krallen“ verschaffen konnten, die sie aus Steinen und Ästen machten. Notfalls konnten sie ohne jene saftigen Südfrüchte auskommen, die in den Wäldern immer seltener wurde. Dass sich die Wälder lichteten, war daher für sie nicht so schlimm. Da sie auch schon gelernt hatten, auf den Füßen zu laufen, hatten sie keine Angst mehr vor den offenen, unbewaldeten Stellen. Und wenn ihnen ein Feind begegnete, begann die ganze Horde der Urmenschen sich mit Steinen und Stöcken zu verteidigen. Die harten Zeiten, die unser affenähnlicher Vorfahr durchmachte, konnten ihn weder vernichten noch zwingen, sich gemeinsam mit den tropischen Wäldern zurückzuziehen; sie beschleunigten nur seine Umwandlung zum Menschen.
Und was geschah mit jenem Teil unserer Vorfahren, die Affen blieben? Sie blieben Waldbewohner und wichen mit den Wäldern nach Süden aus. Da sie die Entwicklung der Urmenschen nicht durchgemacht hatten, konnten sie keine Werkzeuge benutzen. Die geschicktesten unter ihnen lebten weiterhin in den obersten Etagen der Wälder, lernten noch besser auf den Bäumen zu klettern und sich an den Ästen schwingend zu bewegen.
Ganz anders war das Schicksal der Affen, die nicht so flink waren und sich dem Baumleben nicht weiter anpassen konnten. Von ihnen sind nur die größten und kräftigsten am Leben geblieben. Aber je massiger und größer ein Tier war, desto schwerer fiel es ihm, auf dem Baum zu leben. Wohl oder übel mussten diese großen Affen auf die Erde herunterkommen. So leben zum Beispiel auch die heutigen Gorillas in den unteren Stockwerken des Waldes. Gegen Feinde verteidigen sie sich auf der Erde, aber nicht mit Steinen und Stöcken, sondern mit riesigen Eckzähnen, mit denen ihre mächtigen Kiefer bewaffnet sind.
So gingen die Wege des Menschen und seiner verschiedenen Verwandten auseinander.
In der nächsten Vorlesung werden wir erkunden, wie die Urmenschen wohnten, wie sie arbeiteten und lebten – und dann schon nähern wir uns zusehends jenem Zustand, in dem sie sich ihrer selbst, ihrer Eigenexistenz bewusst werden und sich als Schöpfer von Werkzeugen und „Produkten“ begreifen – lasst uns erkunden, ob wir vielleicht hier auf die Spur des Schöpfungsgedankens kommen. Aber nicht zu stürmisch, bitte. Noch befinden wir uns Jahrtausende vor diesen Entwicklungen …
Vorlesung 3
Bisher beschäftigten wir uns mit der Umwelt und den Vorfahren und Seitenlinien des Urmenschen, mit den Schimpansen, Gorillas und anderen Affen. Wir verfolgten ihre Lebenswege bis zu dem Zeitpunkt vor 5 Millionen Jahren, als sich die Wege des Menschen und seiner verschiedenen Verwandten trennten. Die Haupttrennlinie war folgende: Durch den Rückzug des Waldes nach Süden waren jene Affen, die ausschließlich auf den Bäumen wohnten und Hände und Füße gleichermaßen zum Laufen und Pflücken nutzten, gezwungen dem Umzug des Waldes zu folgen, während jene Wesen, die bereits durch die Freigabe ihrer Hände das Laufen und Benutzen von Hilfswerkzeugen gelernt hatten, in der Lage waren, auch auf dem Boden, in der Steppe, ihr Auskommen und ihren Schutz zu finden. Ich sage „gelernt hatten“ und meine: „lernen mussten“ und nicht „lernen konnten“, denn selbst dies, die Freigabe der Hand durch die Unabhängigkeit des Fußes, war durchaus kein freiwilliger Akt, sondern ein durch die Umstände bedingter Zwang.
Heute und in der Folgevorlesung wollen wir erkunden, wie die Urmenschen lebten, wie sie wohnten und arbeiteten, wie sie den Gebrauch des Feuers und damit hochwertigere Proteine entdeckten, wie sich dadurch und durch die aufrechte Haltung und durch den Blick in die Ferne und durch das Fertigen immer komplizierterer Werkzeuge in Hunderttausenden von Jahren ihr Gehirn weiterentwickelte. Im später folgenden Vorlesungen geht es sodann um die Fragen, die uns immer näher und näher an unser Thema heranführen: Wie sich der Mensch als Produzent selbst entdeckte. Wie er sich des Unterschieds zu den anderen Lebewesen bewusst wurde. Wie er die Zeit entdeckte und wie er die planetarischen Weltuhren, Sonne und Mond, als lebenswichtige „Lebewesen“ empfand und sie verehrte. Wie er seine Lebensmittel bewusst entdeckte, wie er sie anzubauen, zu schätzen und zu ehren wusste und wie er diesen Lebensmitteln erste Opfergaben darbrachte. Noch kennt er keine Götter, noch reicht weder seine Phantasie noch sein Wissen so weit, dass er „andere Lebewesen“ hinter allem vermutet. Aber dann lernt er nachbarschaftliche Verwandtenstämme kennen und beginnt zu ahnen, dass seine Welt aus mehr als nur ihm und dem Ort seiner Geburt besteht. Nun stehen unsere Vorfahren kurz vor der Geburt Gottes.
Der Mensch lernte nicht plötzlich auf zwei Füßen zu gehen. In der ersten Zeit ging er wahrscheinlich nur zeitweilig und unbeholfen aufrecht. Wie hat der Mensch – oder richtiger: der Affenmensch – damals ausgesehen? Lebend ist der Affenmensch nirgends erhalten geblieben. Aber sind nicht wenigstens seine Knochen erhalten?
Wenn man diese Knochen nur finden würde, fragten sich bereits vor rund 160 Jahren die Zoologen, die Biologen, Archäologen und Philosophen, dann könnte man endgültig beweisen, dass der Mensch vom Affen abstammt. Der Affenmensch ist der urälteste Mensch, das Verbindungsglied in jener Kette, die vom Affen zum heutigen Menschen führt. Und dieses Glied soll spurlos in Lehm und Sand, in den Ablagerungen der Flüsse verloren gegangen sein?
Die Archäologen verstehen sich darauf, in der Erde herumzuwühlen. Aber bevor man zu graben anfängt, muss man wissen, wo man graben soll, wo dieses verschwundene Kettenglied zu suchen ist. Es ist wohl noch schwieriger, die Knochen des Urmenschen in der Erde als eine Stecknadel im Heuhaufen zu suchen. Am Ende des 19. Jahrhunderts hat der Naturforscher Ernst Haeckel erstmals die Vermutung ausgesprochen, dass die Knochen des Affenmenschen – oder, in der Sprache der Wissenschaft: des Pithekanthropus – wahrscheinlich in Südasien zu finden wären. Und er bezeichnete auch die Gegend, in der nach seiner Meinung die Knochen des Pithekanthropus erhalten sein könnten: die Malaiischen Inseln.
Haeckels Gedanke schien vielen zu schwach begründet. Aber es fand sich doch einer, der so fest daran glaubte, dass er alles stehen und liegen ließ und beschloss, nach dem Malaiischen Archipel zu reisen, um den dort vermuteten Pithekanthropus zu suchen. Das war Dr. Eugen Dubois, der bis dahin Vorlesungen über Anatomie an der Amsterdamer Universität gehalten hatte. Viele seiner Arbeitskollegen und die Professoren der Universität schüttelten die Köpfe: Ein Mensch mit normalen geistigen Fähigkeiten dürfe doch nicht so leichtfertig sein. Es waren eben würdevolle Leute, und die einzige Reise, die sie dazumal zu machen pflegten, war der tägliche Weg durch die ruhigen Amsterdamer Straßen mit dem Regenschirm in der Hand von Zuhause in die Universität und zurück.
Um seinen kühnen Gedanken zu verwirklichen, verließ Dubois die Universität, trat als Militärarzt in den Dienst der holländischen Kolonialtruppen und fuhr von Amsterdam ans „Ende der Welt“ – nach der Insel Sumatra. Sobald er dort angekommen war, machte er sich auf die Suche. Ganze Berge wurden nach seinen Anweisungen umgegraben und durchwühlt. Es verging ein Monat, ein zweiter, ein dritter, aber die Knochen des Pithekanthropus waren nicht zu finden.
Wenn ein Mensch sucht, was er verloren hat, so weiß er wenigstens, dass der verlorene Gegenstand irgendwo ist und dass man ihn bei genügend eifrigem Suchen finden kann. Dubois aber war wesentlich