Seit fast zwei Wochen sind Ignazia und Roman nun abgereist. Der Abschied war schmerzlich, doch herzlich zugleich. Franzine wünschte der Freundin alles Glück der Erde, denn sie wusste, hier hätte sie, als ehebrecherisches Flittchen, keine ruhige Minute mit ihrem Freund verleben können, an dem ihr Herz für immer hängen bleiben sollte. Und Roman, der es bitter bereute, dass er einst seinen Drang freien Lauf ließ, hatte schon längst erkannt, dass er in Ignazia die Frau seines Lebens gefunden hatte. Doch die Fehler ließen sich nicht ausradieren, besser späte Erkenntnis, als gar kein Einsehen. Er verheimlichte nichts vor ihr, sein Ruf war ihm zwar schon vorausgeeilt, doch Ignazia sagte nur: Schwamm drüber, beginnen wir ein neues Leben. Zusammen! Er war mehr als begeistert und dann begannen sie miteinander Pläne zu schmieden. Er nahm die Chance wahr, in Kanada in ein riesiges Holzunternehmen, das ein ausgewandeter Freund vor Jahren aufgebaut hatte, die Leitung zu übernehmen. Schließlich verstand er viel von diesem Geschäft, er hatte in zwei Jahren alles gelernt was dazu nötig war. Er knüpfte Kontakte, sparte sich eisern einen beachtlichen Betrag zusammen, eignete sich alles über Import und Export an und informierte sich über eventuelle neuen Abnehmer. Das neue Leben konnte beginnen, auch wenn es weit weg von der Heimat war. Mit Ignazia an seiner Seite konnte nichts mehr schief gehen.
Franzine vermisste die Freundin so sehr, dass es fast schmerzte. Obwohl sie sich endlich frei glaubte, war sie einsam, auf sich gestellt, alleine mit Bernadette, ihrer kleinen Tochter. Ohne die Eltern oder jeglichen Verwandten alleine durchkommen zu müssen wurde ihr nun auf grausame Weise bewusst. Sie eignete schon in ganz jungen Jahren eine gewisse Selbstständigkeit an die ihr nun zugute kam, die Angst vor der Zukunft aber nicht schmälerte. Die Härte des Lebens traf sie nun mit voller Wucht. Die nötige Kraft schöpfte sie immer wieder aufs Neue wenn sie ihre fröhliche kleine Tochter betrachtete die ungezwungen von all dem nichts ahnte. Sie gab ihr das nötige Durchhaltevermögen und den Willen, nicht aufzugeben. Das karge Dasein würde sich bald ändern. Mittlerweile hatte Bernadette eine Freundin gefunden, Tanja, mit der sie am liebsten im riesigen Hof spielte. Schenkte ihr die neue Freundin nur für kurze Zeit keine Aufmerksamkeit, lief Bernadette schluchzend und außer sich, die Treppen zu ihrer Mutter hinauf und beichtete ihr mit Tränen in den Augen ihren Kummer. Doch schon nach kurzer Zeit war alles vergessen, packten ihre Rodeln aus dem Keller, sausten los und fuhren mit großer Geschwindigkeit den nahe gelegenen Hang hinunter und schrieen dabei aus Leibeskräften. Auch andere Kinder frönten sich dem Vergnügen, kamen mit Skiern an und staffelten den gesamten Hang mit bewundernswerter Geduld hinauf um dann endlich mit gekonntem Slalom den Berg hinunter zu wedeln.
Dann gab es noch Pucki, ein wunderschöner, rostbrauner Boxerhund der im Parterre im Haus Frau Ardos gehörte. Esther Ardos hinkte stark beim Gehen, zog ihren rechten Fuß etwas nach, was die Folge einer Polio Erkrankung war die sie als Kind erlitten hatte. Sie musste laut knarrende Schuhe tragen, die ihr der Orthopäde schon vor langer Zeit verordnete, um das Gleichgewicht zu halten. Sie ließ Pucki fast täglich in den Vorgarten hinaus und so tollte er mit seinen eigens für ihn gekauften roten Gummiball herum. Für seinen Auslauf war bestens gesorgt. Bernadette freundete sich mit dem Tier an und spielte so oft es nur möglich war mit dem temperamentvollen Hund. Oft starrte Bernadette Esther Ardos, wenn sie hinkend an ihr vorbeischritt, zum Einkaufen ging, oder die Steinstufen mit einigen Schwierigkeiten emporstieg, mitleidig nach. Sie war mit Emmerich Ardos schon seit vielen Jahren verheiratet und lebte mit ihrem Ehemann schon seid Ewigkeiten in diesem Haus. Mit Anzug und Krawatte in dem man ihn stets zu sehen bekommt, wird er als „hohes Tier“ von den Anwohnern betitelt. Tatsächlich war er einer der führenden Ingeneuren im ortsansässigen Stahlwerk und war bei den Arbeitern nicht besonders beliebt. Franzine bezeichnete ihn einmal als „arroganten Affen“, als sie einen an ihn gerichteten Gruß aussprach und kein Wort des Dankes von ihm vernahm. Bernadette konnte sich nichts darunter vorstellen und fragte auch nicht lange nach. „Etwas Besseres“ war er also, kein Grund um den Mund nicht aufzumachen wenn man gegrüßt wird. Vielleicht war das der Grund, warum Emmerich Ardos, wenn er jemanden im Garten begegnete, manchmal ein kaum hörbares ‚Guten Tag’ flüsterte, oder nur selten ein Wort des Grußes übrig hatte.
Gegenüber von den Ardos wohnte die Familie Kleinknecht. Die ältere, stets freundliche Frau hatte immer ein nettes Wort für Bernadette übrig. Oft strich sie mit ihrer faltigen Hand über Bernadettes Haar, jubelte freudig auf und klatschte in die Hände wenn Bernadette den Ball warf und Pucki wie ein Pfeil hinterher schoss. Bernadette begrüßte sie immer winkend, auch wenn Melitta Kleinknecht noch in weiter Ferne des Weges weilte und langsam entlangkam. Sie hatte einen Sohn, Rainer, der schon über zwanzig war und noch bei den Eltern zu Hause lebte. Ihr Mann, Oktavian, war schwer herzkrank und konnte das Haus kaum verlassen. Manchmal war sein kahler Kopf am Fenster zu sehen, aber Bernadette fürchtete sich vor ihm. Zaghaft versuchte er ihr dann zuzuwinken, was sie ängstlich ignorierte und eilig davon lief.
Familie Edler waren die ersten Menschen mit denen Franzine in ihrem neuen Zuhause in Kontakt trat. Besser gesagt mit Frau Edler, Albine, die ihr den Brief Ignazias überbrachte als sie kaum angekommen waren. Roman hatte sich in den zwei Wochen kein einziges Mal blicken lassen. Curt, ihr zweiter Sohn, weilte schon ein paar Tage bei der Familie und es ist auch etwas stiller geworden in der sonst so lauten Wohnung. Fast immer wurde gestritten und Franzine konnte beinahe jedes Wort verstehen was die Eheleute sich an den Kopf warfen. Curt, ein ebenfalls Gutaussehender Mann zwei Jahre älter als Roman, schien sich bei ihren Angelegenheiten nicht einzumischen. Offiziell lebte er in einer anderen Stadt und man munkelte, dass er gerade eine Scheidung hinter sich gebracht hatte. Manchmal begegnete Franzine die schielende Frau im Treppenhaus, grüßte sie freundlich, was sie aber wenig zu schätzen wusste. Sie verhielt sich zwar nicht feindselig ihr gegenüber, aber den Gruß sprach sie leise und ohne jede Regung aus. Ihren Mann, Udo bekam sie fast nie zu Gesicht, doch Franzine erkannte gleich, als sie sich einmal im Treppenhaus begegneten, dass er früher ein stattlicher, attraktiver Mann gewesen sein musste. Er kümmerte sich nicht um sie, meistens saß er nur in der Wohnung und soff. Das hatte sich auch nicht geändert als Curt auftauchte, er ließ sich immer von Albine das Bier aus dem Keller bringen, vernichtete den Inhalt, Curt verzog sich einstweilen in das elterliche Schlafzimmer zurück, denn wenn sie beiden wieder ihre Auseinandersetzungen hatten, war Curts Stimme nie zu hören.
Franzine gefiel es hier und beschloss ein glückliches Leben anzufangen.
Die Anstellung im Krankenhaus hatte sie in der Tasche. Das bestätigte ein Brief von der Verwaltung, den sie glücklich in den Händen hielt und ihn immer wieder durchlas. Arbeitsbeginn war der 15. Dezember, also knapp vor Weihnachten und das kam ihr gerade recht. Besser konnte es gar nicht laufen, zu Neujahr würde sie das erste Gehalt kriegen, das waren immerhin zweitausendfünfhundert Schilling! Viel Geld! Das sind im Monat fünftausend, unvorstellbar dass es ihr selbstverdientes Geld sein sollte.
Der Verwaltungsdirektor des Krankenhauses, wo sie sich zum Gespräch anmeldete, musterte sie streng, als sie ihm endlich gegenüber im Büro saß. Sie zeigte keine Spur von Verlegenheit und selbstbewusst blickte sie ihm in die kleinen, noch vom Schlaf gezeichneten grauen Augen. Sein blondes, schütteres Haar war nach hinten gekämmt, die Krawatte saß zu locker und sein brauner, abgetragener Anzug könnte wieder eine Reinigung vertragen.
„Lesen Sie sich den Vertrag durch“, meinte er ernst, „ Sie müssen auch mal Nachts hier bleiben, die Schwestern brauchen immer eine helfende Hand.“ Franzine nickte. Das war ihr nur recht.
Mit ihrer Unterschrift besiegelte sie ihren Einsatz im Dienste der Genesung und Gesundheit. Nun war es bestätigt. Als Hilfsschwester gebraucht zu werden machte sie zum glücklichsten Menschen der Welt.
„Sagen Sie meiner Sekretärin dass sie Ihnen die Unterkunft zeigen soll, dort können Sie Übernachten wenn es nicht anders geht. Ich wünsche Ihnen viel Spaß.“ Er stand auf und reichte Franzine die Hand. Der Handschlag war fest und tat ihr weh. Doch das spielte keine Rolle, freudestrahlend verließ sie das Büro.
Das Zimmer musste sie mit drei anderen Kolleginnen teilen. Die Betten waren wie in den Krankenzimmern links und rechts aufgereiht, die weiße Farbe blätterte von den Bettgestellen und von den Wänden ab. In den zwei großen Schränken, die in der Ecke neben der Tür platziert waren, konnten sie ihre Sachen unterbringen. Die ältliche Sekretärin trug