Liebe Dorothea,
Bevor du diesen Brief zerknüllst, bitte ich Dich als meine Schwester, das Schreiben, dass ich an Dich richte, durchzulesen. Natürlich kann ich gut verstehen, wenn Du dieses Stück Papier am liebsten verbrennen und nichts davon wissen willst. Nach langen Jahren der Funkstille wende ich mich hoffnungsvoll und vertrauensvoll an Dich. Da wir nicht ahnen, wie unser beider Leben bis zu diesem Zeitpunkt verlaufen ist, möchte ich meine Hände hoffnungsvoll nach Dir ausstrecken, hoffen, das wir diese feindliche Fehde vergessen und uns versöhnlich entgegentreten können. Ich war grausam, ich war jung, dumm und überempfindlich. Ich war eifersüchtig und egoistisch dir gegenüber, begriff nicht, dass Du eine der liebenswertesten Menschen bist, die je in meinem Umfeld zu finden waren. Meine eigene Schwester derartig zu verletzen und zu quälen bescherten mir zunehmende, bittere, schlaflose Nächte in denen ich nur am Grübeln war. Ich war zu stolz, zu stur und auch verletzt ohne dass du ahntest wie es im tiefen Inneren um mich bestellt war. All das liegt nun Jahre zurück und ich weiß nicht wie ich diese Zeit des Hasses ungeschehen, und wieder gut machen soll. Der Verlust unserer Eltern reichte nicht aus um mich versöhnlich zu stimmen, dich um Verzeihung bitten und Dir zu sagen, dass mir alles unendlich Leid tut. Ich war zu verbohrt, unzugänglich für die gut gemeinten Ratschläge unserer Mutter, die ich nie zu mir dringen ließ.
Mein Herz blutete, ich zeigte nur zum Schein meine harte äußere Schale. Mein gesunder Verstand ließ mich im Stich, mein innerer Stolz verbot mir, Dir auch nur ein einziges Wort zu schenken. Ich bereue es zutiefst, lass es mich bitte wissen, was ich tun kann um alles wieder so herzustellen wie es früher zwischen uns gewesen ist.
Doch nun bin ich in eine Lage geraten aus der ich keinen Ausweg mehr finde. Vor fünf Jahren bekam ich eine kleine Tochter; Bernadette, ich hatte sofort geheiratet als ich die Bestätigung der Schwangerschaft in den Händen hielt. Mein Ehemann, sein Name ist Ferdinand, entwickelte sich zu einem Tyrannen, ließ mir so gut wie keinen Freiraum, ich wurde sehr kurz gehalten, lebten mit seinen Eltern in einer kleinen Wohnung zusammen unter einem Dach. Als er anfing mich zu misshandeln fing ich an meine Flucht zu planen, ich musste noch drei Jahre in diesem Hause durchstehen doch dann gelang mir mit Hilfe einer Freundin zu entkommen. Nun habe ich eine
Arbeitsstelle in einem Krankenhaus gefunden dass sich weit außerhalb des Bezirkes befindet. Die Arbeitszeiten verlangen auch, dass ich mehrere Male im Monat dort übernachten muss, oft tage- und nächtelang wegbleiben muss. Meine kleine Tochter wäre auf sich allein gestellt, denn es gibt hier weder einen Kindergarten noch eine sonstige Vorkehrung dieser Art in unserem Ort.
Liebe Dorothea, ich will eine Frage an Dich richten die mir in diesem Augenblick sehr schwer fällt:
Wäre es möglich mein kleines Mädchen für acht Monate zu Dir zu nehmen? Danach tritt sie in die erste Schulstufe ein und bis dahin wird sich eine Lösung gefunden haben. Nur einzig Dir allein vertraue ich Bernadette vollkommen an, ob Zusage oder nicht, ein Antwortschreiben von Dir würde mich zu einem sehr glücklichen Menschen machen. Von Dir zu hören wäre wie ein kleines Wunder.
In freudiger Erwartung von Dir zu hören möchte ich Dir die besten Wünsche übersenden.
Ich grüße Dich und umarme Dich
Deine Schwester Franzine
Sie war zufrieden mit dem Ergebnis, beschriftete den Briefumschlag und setzte ihre Anschrift fein säuberlich auf die Rückseite. Am nächsten Morgen rannte sie mit weichen Knien zum Postamt und gab den Brief per Eil – Express nach Italien auf. Jetzt hieß es warten, warten und hoffen.
Zwei Tage später, Franzine hatte gebacken und schabte die letzten Plätzchen vom Blech, pochte es heftig an der Tür. Schnell lief sie mit noch bemehlten Händen zur Tür und riss sie auf.
„Telegramm“ rief der an der Schwelle stehende Postbote. Franzine unterschrieb die Quittung, grüßte und ging zurück in die Küche. Es kam aus Italien, von Dorothea, lange starrte sie das Papierstück an bevor sie es endlich öffnete. Mit gemischten Gefühlen begann sie zu lesen.
Es wird alles gut werden, Gott, ich danke Dir, Franzine schloss die feuchten Augen, fast hatte sie vergessen dass sie gar nicht an ihn glaubte, doch in diesem Augenblick musste er irgendwo lauern und ihr beistehen.
Dorothea kündigte ihren Besuch an, noch knapp vor Weihnachten würde sie Bernadette zu sich nehmen und sie persönlich mit eigenem Auto abholen. Traurig und glücklich zugleich begann sie zu weinen. Doch dann atmete sie auf. Ich muss dieses Opfer auf mich nehmen, dachte sie, ich will nur das Beste für Bernadette. Sie faltete das Telegramm in der Mitte zusammen und legte es gedankenverloren in die Schublade.
Kapitel 2
Letzte Nacht hatte es wieder geschneit, die gesamte Landschaft war in strahlendes Weiß getaucht und glänzte in der Sonne wie dick mit Puderzucker bestreut. Bernadette spielte im Vorgarten mit Pucki, ballte Schneebälle und warf sie weit von sich. Pucki jagte hinterher und versuchte sie in der Luft mit seinem Maul abzufangen. Esther Ardos blickte aus dem Fenster und lächelte, sie war froh dass sich ihr Hund so richtig austoben konnte. Jedes Mal wenn sie ihn außer Haus ließ und er Bernadette witterte, rannte er auf sie zu und wedelte mit seinem kurzen Stoppelschwanz so heftig dass man meinen könnte, er wäre der beste Twisttänzer der Welt. Sein Hinterteil wackelte und tanzte förmlich, so als höre er gerade die Beatles oder Elvis Presley aus dem Radio singen. Bernadette befürchtete schon, das kleine Stück Schwanz könnte ihm jeden Moment aus dem Hinterteil springen. Sie spielte oft stundenlang mit ihm, rannte und tobte im Schnee, streichelte und liebkoste den von ihr erklärten Lieblingshund aller Zeiten mit herzlicher Inbrunst. Manchmal kreuzte Tanja außerhalb des Gartens auf, stand vor dem alten Gatter und wagte sich nicht in die Nähe des Hundes. Diesmal kam sie wieder, fest eingepackt in die Strickjacke, hüpfte sie vor den Zaunlatten hin und her. Bernadette bemerkte zuerst nur die graue hüpfende Quaste an ihrem Kopf.
„Was machst du denn da?“ rief sie durch den Zaun, fasste ihre kleinen, vor Kälte roten Finger an die Latten und spähte durch die Ritze.
„Willst du nicht hereinkommen und mitspielen?“ rief Bernadette und während sie ihre Schneebälle warf.
„ Da gehe ich nicht rein“, Tanja schüttelte heftig den Kopf, „ mit diesem Vieh bringst du mich nicht zusammen.“
„Na komm schon, Pucki tut dir nichts, nur wenn ich ihn anstifte“, scherzte Bernadette und lachte, doch Tanja war nicht umzustimmen. Energisch schüttelte sie den Kopf. „Du bist ein Feigling“, sagte ihr Bernadette unverblümt, Tanja wurde daraufhin wütend und stampfte aufgebracht auf den gefrorenen Boden.
„ Der Hund stinkt, und du stinkst auch bald so wie er“, sagte Tanja laut und sichtlich erregt. Bernadette aber lachte, was Tanja in noch mehr Rage versetzte.
„Du darfst mich nie wieder anfassen, meine Puppe auch nicht, die Hand gebe ich dir auch nie wieder, ich mag keine Leute die nach Hund riechen.“ Bernadette merkte nun, dass es ihr bitterernst war.
„Siehst du denn nicht wie sein Fell glänzt, sein Frauchen bürstet ihn jeden Tag und einmal in der Woche wird er gebadet, vielleicht darf ich einmal zusehen, ich werde Frau Ardos fragen“, versuchte Bernadette ihr die Lage zu erklären. Tanja stieß einen entsetzten Schrei aus.
„Waaaas? Der Hund wird in die Badewanne getan? Ich würde da nie