Zitternd hielt ihr die Schielende den dicken Umschlag unter das Kinn. „Da, nehmen Sie ruhig, was da wohl drin sein mag?“ Sie grinste hämisch. Neugierig betrachtete sie Franzine und das Kind, auffällig musterte sie sie von oben bis unten. Zögernd nahm die Mutter den Umschlag entgegen. Ihr Herz begann zu klopfen.
„Ihre Tochter, die Kleine?“ Bernadette versteckte sich hinter den Mantel ihrer Mutter und lugte scheu hervor. „Ja, das ist Bernadette, “ erwiderte sie höflich, „ komm und sag Frau Edler Guten Tag.“ Zögernd kam Bernadette hervor, reichte der Schielenden die Hand und grüßte sie mit leiser Stimme.
Alkoholgeruch verbreitete sich, die neue Nachbarin hatte wohl einiges getrunken und stand etwas wackelig auf den Beinen. Sie hielt sich am Türstock fest und ihr breites Grinsen konnte sie immer noch nicht abstellen.
„Danke, das ist sehr nett von Ihnen.“ Franzine drehte sich etwas zur Seite, der eklige Geruch der aus ihrem Mund kam, widerte sie an. Der Schielenden schien das nichts auszumachen.
Ein lautes Rülpsen durchbrach das Gespräch. Eine grölende Männerstimme tönte von gegenüber heraus: „Albine, hol mir noch drei Flaschen Bier ausm Keller.“ „Ja, ja komm ja schon, Udo“, rief sie laut zurück, seelenruhig drehte sich die Schielende um und verschwand wieder in ihrer Wohnung.
Alkoholiker, durchfuhr es Franzine, ich hoffe bloß, dass sie friedlich bleiben werden. Nun, die Nachbarn konnte man sich in dieser Situation nicht aussuchen. Sie beschloss so freundlich wie möglich zu bleiben und nicht anzuecken, denn solche Menschen könnten vielleicht sehr unangenehm werden.
Es wird sich alles zum Guten wenden, war sie überzeugt. Die Freude über ihr neues Heim übertraf all ihre Erwartungen. Auch mit den neuen Nachbarn wird sie ihr Auskommen finden, einfach die Freundlichkeit bewahren, dann gibt es auch keinen Ärger, lenkte sie ihre Gedanken ins Positive. Schließlich sind nicht alle Menschen Alkoholiker, oder Fanatiker, oder Verfolger, hier beginnt das Leben von vorne. Mit Bernadette und mit viel Hoffnung auf eine unbeschwerte Zukunft ließ sie sich nicht beirren. Nichts konnte sie davon abhalten. Mit dieser Überzeugung kam sie wieder zurück in die Küche und beäugte den Umschlag. In der Hoffnung dass es keine Verwechslung war, riss sie den Umschlag hastig auf. Ihr Gesicht begann zu leuchten.
„Hör dir das an Bernadette, das ist von Ignazia “ strahlte sie „ lass den Mantel an, setz dich hin, ich lese dir vor.“ Die Kleine setzte sich auf einen Stuhl und hörte gespannt zu. Ihr Gesicht strahlte ebenso, denn das konnte nur etwas Erfreuliches bedeuten.
„Meine lieben Zwei“, begann Franzine zu lesen, „ ich hoffe ihr seid gut angekommen, ich konnte leider nichts besseres für euch auftreiben, aber fürs erste reicht es wohl. Der Vormieter hat noch etwas Brennstoff im Keller gelassen, macht es euch schön warm. Die Miete ist nicht all zu hoch, du wirst mit Bernadette hier glücklicher sein, du wirst sie in Frieden aufwachsen sehn. Hier schicke ich euch ein bisschen Geld, ich weiß, du hättest es ja niemals angenommen wenn ich es dir in die Hand gedrückt hätte, aber auf diesem Weg musst du es annehmen, ich bestehe darauf.
Es wird euch den Start erleichtern, Kopf hoch, du wirst es schaffen! Dein neues Leben kann beginnen, schau nicht zurück, blicke nach vorne, wo sich die Welt vor dir auftun wird. In zwei Tagen ist es soweit, dann geht es ab nach Kanada, Roman und ich sind mitten in den Vorbereitungen, die Reise wird sicher anstrengend werden, aber wir hoffen, dass es sich lohnen wird.
Ich werde mich in regelmäßigen Abständen bei dir melden und dir berichten. Gib der Kleinen einen dicken Kuss von mir, kauf ihr ein paar Süßigkeiten, die isst sie ja so gerne.
Die Kinderbücher bekommt sie auch, an Weihnachten, Ostern und Geburtstagen wird ein Paket bei dir ankommen, eine Bekannte daheim wird sie abschicken, sie liest ja jetzt schon sehr gut, sie werden ihr bestimmt Freude machen.
Ich wünsche Euch beiden viel Glück, ich drücke Dir die Daumen für dein Vorstellungsgespräch morgen im Krankenhaus. Grüß Bernadette ganz lieb von mir.
Ignazia
„Ist das nicht wunderbar Bernadette, “ die junge Frau wedelte mit zwei Geldscheinen in der Luft, „wir werden das alles schon meistern, nicht wahr?“ Die Kleine nickte lächelnd.
Im Umschlag befanden sich noch zweihundert Schilling, die Ignazia in Zeitungspapier eingewickelt und in den Brief gesteckt hatte. Es ist schon lange her, das sie zwei Geldscheine in der Hand gehalten hatte, sie konnte sich kaum noch daran erinnern. Das Mädchen blinzelte ihre Mutter an die auf sie zukam und sie heftig an sich drückte. Beide in dicken Mänteln eingepackt, erschöpft und durchgefroren, sahen nach langer Zeit wieder glücklich aus. Vom Treppenhaus hörten sie Schritte, die Nachbarin holte für ihren Mann das Bier aus dem Keller.
Die junge Frau säuberte den Herd von der alten Asche und füllte den kleinen Schacht, der an der rechten Seite im Ofen eingelassen war, mit kaltem Wasser, danach suchte sie alles was sie dazu brauchte, um Feuer zu machen. Sie fand noch Holz in der Kiste, die gleich neben dem Herd stand und in einer Lade befanden sich auch Streichhölzer, altes Papier zum Anheizen gab es in Fülle und bald war es in der Wohnung wohlig warm. Das Wasser im Schacht erwärmte sich schnell, die junge Frau schöpfte es mit einer Kelle in eine alte Waschschüssel, die sie noch unter dem Spülschrank fand. Beide setzten sich eng auf einem Sessel, die Mäntel legten sie über ihre Schultern. Sie zogen die Schuhe und ihre Strümpfe aus und ließen ihre kalten Füße in das angenehme warme Wasser gleiten. Die wohltuende Wärme, die sich langsam von ihren Beinen in ihren Körpern ausbreitete, ließ sie sanft ermüden.
***
Am nächsten Tag wachten sie ausgeruht, aber ziemlich durchgefroren auf. Obwohl sie ihre Mäntel über die dünnen Bettdecken gelegt hatten um mehr Wärme abzubekommen, sahen sie sich am Morgen zähneklappernd in die Augen. Das Feuer war schon längst erloschen, die Wohnung kühlte in der Nacht erbarmungslos ab.
„Wie hast du denn geschlafen?“ die Mutter zog die Decke des Mädchens hoch und sah ihr besorgt in das Gesicht. Bernadette sagte: „Ganz gut“, und nickte, obwohl sie vor Kälte zitterte. Die Mäntel auf den Decken gaben kaum Wärme ab.
„Bleib schön liegen, ich mache Feuer, hoffentlich finde ich noch Kleinholz zum Anheizen.“
Zitternd stand die Mutter auf, rieb sich beide Arme, pustete in die Handhöhlen und ging in die Küche. Bernadette lag fröstelnd im Bett und holte sich noch den Mantel der Mutter und legte ihn auch noch auf ihre Bettdecke dazu. Ganz ruhig wartete sie auf das Knistern des Feuers. Sie wusste nicht warum sie hier waren, warum sie so schnell laufen mussten, warum sie niemanden was erzählen durften.
Der Hunger meldete sich. Sie nahm ein unangenehmes Knurren im Bauch wahr, ein bekannter Zustand, den sie schon öfters in letzter Zeit ertragen mußte. Sie war daran gewöhnt.
Mama würde bald etwas zu Essen bringen, sie wird zuerst Feuer machen und den Teekessel aufstellen. Bernadette kroch noch weiter unter die Decke mit den Mänteln und zog sie bis zur Nasenspitze hoch.
„Mein Gott“, hörte Bernadette ihre Mutter plötzlich durch die Tür rufen, „dieser Qualm, oh nein, was ist hier los?“ Franzine geriet in Aufregung, fing an zu husten und bekam fast keine Luft mehr. „Meine Güte, das Rohr ist verstopft!“ rief sie ärgerlich, aus dem Kamin, in dem das Ofenrohr angebracht war, kam beißender Rauch der sich rasch in der Küche ausbreitete. „Nein, auch das noch, gestern hat das Ding noch funktioniert.“ In ihrer Aufregung wusste sie nicht, was sie tun sollte und rannte hustend in der Küche auf und ab. Fast geriet sie in Panik, doch sie behielt die Fassung und blieb einigermaßen ruhig. Scharfer Gasgeruch stieg ihr in die Nase, immer mehr dunkelgrauer Rauch strömte aus dem Kamin und sammelte sich in der Küche an. Die Tür zum Schlafzimmer ließ sie geschlossen, Bernadette sollte nichts davon mitkriegen. Sie rannte zum Küchenfenster und riss es hastig auf. Mit einem Tuch wollte sie den Qualm loswerden und versuchte ihn ins Freie zu wacheln. Schließlich gelang es ihr, eine große Rauchwolke trat aus dem Fenster vom ersten Stock hinaus die langsam gen Himmel emporstieg. Zum Glück sah niemand von den Anwohnern die Bescherung, womöglich hätte noch jemand die Feuerwehr gerufen. Sie hantierte noch eine Weile am alten Tischherd herum, packte das Rohr und versuchte es zu rütteln. Ein Knall ertönte, und mit