Wo ist denn eigentlich dieses Glück?. Katja Pelzer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Katja Pelzer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748599517
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Und jeder Mensch hat so seine Vorlieben und Lieblinge. Frau Eberhard berührt mich jedenfalls auf ganz besondere Art.

      In diesem Moment erwartet sie mich bereits in ihrer Appartementtür, auf ihren Rollator gestützt, aber dabei ganz aufrecht. Sie trägt ein schönes, dunkelblau-weiß-gestreiftes Seidenkleid, mit goldenen Knöpfen, auf die kleine Anker geprägt sind.

      Frau Eberhard hat noch immer einen auffallend guten Stil, finde ich. Ihr liebes Gesicht leuchtet auf, als sie mich sieht.

      „Oh Schwester Alice, wie schön! Danke, dass sie vorbeikommen. Ich brauche bitte Milch für meine Katzen.“

      Ich lächele verständnisvoll und nicke der zarten kleinen Frau wohlwollend zu.

      „Na, dann werde ich gleich mal welche holen“, antworte ich und versuche, dabei munter zu klingen. Munter ist hier wichtig.

      Auch wenn Frau Eberhards Katzen reine Hirngespinste sind. Die Dreiundachtzigjährige leidet nämlich unter Parkinson und zu den schubweisen Lähmungserscheinungen gesellen sich immer wieder höchst lebendige Halluzinationen. Regelmäßig ruft sie nachts um Hilfe, weil sie ganze Partygesellschaften in ihrem Wohnzimmer wähnt. Wenn ich nachts im Dienst bin, schicke ich die unerwünschten Gäste einen nach dem anderen nach Hause. Auf Frau Eberhards kindlich-hübschem Gesicht breitet sich dann selige Entspannung aus und sie schläft rasch wieder ein, als wenn nichts gewesen wäre.

      Jetzt schaut sie mich erwartungsvoll an. Und ich mache auf dem Absatz kehrt, um in der großen Hauptküche Milch zu holen.

      Doch als ich wenige Minuten später mit der Milch zurückkomme, schaut Frau Eberhard mich nur erstaunt an und sagt. „Aber Schwester, Sie wissen doch genau, dass ich keine Milch mag!“

      So ist das meistens. Ich lächele, streichele über eine von Frau Eberhards Hände, die schmal, knochig und von Altersflecken übersät auf den Griffen ihres Rollators liegen.

      „Weiß ich doch!“, sage ich. „Ich wollte sie Herrn Arnold bringen. Der möchte sie für seinen Kaffee.“

      „Ach so“, sagt Frau Eberhard. „Dann bestellen Sie dem Herrn Arnold mal charmante Grüße und wohl bekomm’s!“ Sie knipst mir kess ein Auge zu, während sie das sagt.

      Herr Arnold hat nämlich eine große Schwäche für Frau Eberhard. Aber sie mag ihn auch. Das hat sie mir mal anvertraut. Außerdem sehe ich die beiden an sonnigen Tagen manchmal nebeneinander auf ihren Rollatoren unter einem der Apfelbäume sitzen. Auch schon mal Händchen haltend und die Köpfe tuschelnd oder schmusend zusammengesteckt. Mich rührt der Anblick dieser beiden reizenden Alten so sehr, dass er mir ins Herz zwickt. Ich denke dann an meine Eltern und dass sie zusammen haben alt werden wollen.

      Kapitel Drei

      Meine Eltern waren gläubige Menschen. Sehr gläubige.

      Jeden Sonntag schleiften sie mich in die Kirche. Schon in einem Alter, in dem mir die Worte von der Kanzel wie eine Fremdsprache erschienen.

      Mein Vater hieß Paul und als ich ein kleines Mädchen war, engagierte er sich hin und wieder in der Gemeinde. Er las während der heiligen Messe manchmal das Evangelium, holte die Hostien aus dem Tabernakel und verteilte sie gemeinsam mit dem Pastor. Wenn der Pastor während der Wandlung dann Papst Paul dankte und für ihn betete, war ich überzeugt, dass mein Vater der Papst war, schließlich machte er ja die ganze Zeit all diese sinnvollen Dinge während des Gottesdienstes. Und er hieß Paul. Mir kam das sehr schlüssig vor.

      Eines Tages, nach der Messe, fragte ich ihn. Weil ich so davon überzeugt war, kam die Frage, vermutlich eher rhetorisch rüber, nach dem Motto: „Du bist doch der Papst, oder!?“

      Ich habe meinen Vater noch nie so lachen sehen. Vorher nicht und nachher nicht. Und als er es Sekunden später meiner Mutter erzählte, weil ich die Frage nicht besonders laut gestellt hatte, lachte auch meine Mutter schallend. Erst war ich leicht beleidigt. Dann freute ich mich aber, dass ich sie so zum Lachen bringen konnte. Und dann sah ich auch ein, dass mein Vater ja gar keine Zeit hatte, der Papst zu sein, weil er eigentlich als Jurist bei einer Firma gearbeitet hat. Meine Mutter war seit meiner Geburt zu Hause geblieben. Vorher hatte sie als Sekretärin in derselben Firma gearbeitet wie mein Vater.

      Alice heiße ich, weil meine Mutter Lewis Carroll liebte. Sie war selbst eine große Geschichtenerzählerin. Und Lewis Carroll war für sie sozusagen der Urvater der Fantasy. Sie nahm mich einmal mit ins Kino in den Disney-Trickfilm Alice im Wunderland. Ich habe nur ihr zu Liebe durchgehalten. Am liebsten wäre ich schreiend rausgerannt. Vor allem die Herzkönigin und ihre Garde waren mir als Kind zu unheimlich. Meine Mutter hat mir einmal gesagt, dass sie mich Alice genannt hat, weil sie hoffte, dass ich für mich auch eine Art Wunderland finden würde, in dem ich mich würde behaupten können, in dem ich schrumpfen, wachsen und schließlich ich selbst werden könnte – ein richtig guter Mensch. Mit lustigen Freunden und ganz viel Glück Aber es ist gar nicht so einfach ein guter Mensch zu sein, und gleichzeitig glücklich.

      Den frühen Tod meiner Eltern konnte ich jedenfalls weder verhindern noch verwinden. Sie sind bei einem Busunglück ums Leben gekommen, als sie sich einmal alleine eine Reise gönnten. Da war ich gerade mit der Schule fertig und achtzehn Jahre alt. Lange hatten sich meine Eltern auf diese Fahrt nach Slowenien gefreut. Sie hatten schon so viel über die unberührte Natur dort gehört und mein Vater war ein leidenschaftlicher Fliegenfischer. Er stand dann in Slowenien mit seinen wasserdichten Hosen und hohen Gummistiefeln in den wilden Flüssen. Die meisten Fische, die er fing, ließ er wieder frei. Nur zwei Regenbogenforellen ließen er und meine Mutter sich in ihrem Hotel zubereiten. Sie hatten eine wunderbare Zeit. Das erzählten sie mir am Telefon.

      Ich habe sie nie wiedergesehen.

      Der Bus war an der Steilküste in einer Kurve mit einem Lkw kollidiert, der viel zu schnell unterwegs gewesen war. Der Bus war in Flammen aufgegangen und meine Eltern hatten sich nicht mehr rechtzeitig aus dem brennenden Bus retten können.

      Das ist schon eine ganze Weile her.

      Aber so kommt es, dass ich noch immer dort lebe, wo ich aufgewachsen bin. In der Wohnung meiner Eltern. So kann ich ihnen auch weiterhin nah sein und mich auf eine Art sicher fühlen, wie ich es nicht tue, wenn ich mich außerhalb meiner Komfortzone bewege.

      Ich habe dann doch nicht Literatur und Sprachen studiert, wie ich es eigentlich vorgehabt hatte.

      Das ging nicht. Mir fehlte einfach das Geld. Eine Ausbildung schien mir vernünftiger. Krankenschwestern wurden immer gebraucht. Und nach dem Tod meiner Eltern, hatte ich das Bedürfnis zu helfen. Das war beinahe organisch. Eines hat sich aus dem anderen ergeben. Ich habe diese Entscheidung später nie hinterfragt. Wahrscheinlich habe ich irgendwann auch keine andere Wahl mehr gehabt. Also bin ich jetzt Schwester und Kümmerin Alice.

      Kapitel Vier

      Als ich nach der Arbeit nach Hause komme, steht Iris im Hinterhof vor ihrer Wohnung und raucht eine ihrer langen eleganten Zigaretten.

      Iris ist groß und schlank und hat fast schwarze Haare, die sie in einem sehr akkuraten Pagenschnitt trägt. Ihr Pony endet mitten auf der Stirn. Dort bleibt er seit Jahren. Weil sie ihn konsequent einmal in der Woche Millimeter genau selbst nachschneidet.

      Noch bevor ich bei Iris ankomme, schießt ihre Zwergschnauzer-Hündin Nelly auf mich zu, schwänzelt um mich herum und springt an mir hoch. Sie stellt ihre flauschigen Pfoten auf meine Knie, schaut mich aus langbewimperten braunen Augen steinerweichend an und lässt sich ausgiebig von mir begrüßen. Dankbar streichele ich ihr weiches schwarz-silbernes Fell. Das ist nach so einem Arbeitstag die beste Therapie.

      Damit keine Missverständnisse aufkommen: Ich liebe meine Arbeit. Aber natürlich ist sie auch anstrengend. Da ist es gut, dass das Nachhause-kommen, wie die Fahrt auf eine Insel oder in eine Oase ist. Still ist es hier. Ein großes Tor schottet uns abends von der Außenwelt ab.

      Unser Hinterhof besteht aus vielen kleinen Gärten. Die meisten Bewohner haben ein echtes Händchen für alles Blühende. Iris ist