Wo ist denn eigentlich dieses Glück?. Katja Pelzer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Katja Pelzer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748599517
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Menschen brauchen eben besonders viel Zuwendung. Gleichzeitig bekommen sie meist am wenigsten. Einer dieser Widersprüche im Leben.

      Jetzt ist Herr Schroer also tot. Diesen Weg gehen sie hier alle. Auch die Netten, Charmanten, Lebenslustigen. Zu diesen gehörte Herr Schroer nicht. Aber über Tote spricht man nicht schlecht. Daher würde ich meine Meinung über den Alten natürlich nie laut äußern. Obwohl ich weiß, dass ich mit dieser Ansicht nicht allein bin.

      Stattdessen frage ich die Nachtschwester: „Weiß seine Tochter Bescheid?“

      „Wir dachten, dass du vielleicht anrufen könntest. Du hast so eine nette Art“, antwortet die Nachtschwester.

      Ach ja, meine nette Art. Das meiste bleibt an mir hängen. Ich seufze innerlich. Irgendwie hat immer jemand eine Bitte, ein Anliegen. Und ich sage dann eben nicht nein.

      Gerade wundere ich mich, warum die diensthabende Schwester es nicht einfach selbst getan hat, dann wäre es längst erledigt. Aber dann schlucke ich die Frage herunter, bevor sie aus meinem Mund heraustreten und im Raum stehen kann. Ich komme mir direkt kleinlich vor, dass ich das überhaupt denke. Das ist schon in Ordnung, dass ich den Anruf mache. Das erledige ich am besten direkt, damit es abgehakt ist.

      „Habt ihr die übrigen Vorkehrungen getroffen?“, frage ich stattdessen.

      „Er ist bereits abgeholt worden“, antwortet die Nachtschwester.

      Erleichtert atme ich auf. Ich hätte den Tag nur ungern mit der Leiche eines kauzigen, übergriffigen, alten Mannes begonnen. Wenigstens das bleibt mir erspart.

      Wie so oft wird mir gerade vor Augen geführt, dass unser Tun im Seniorenheim sich durch eine gewisse Vergeblichkeit auszeichnet. Egal, wie wohl sich jemand hier fühlt. Egal wie unglücklich oder glücklich jemand in seinem Leben gewesen ist – am Ende werden sie alle abgeholt.

      „Schwester Alice“, die Stimme in meinem Rücken gehört Doktor Benno Franzen. Sie ist tief und weich und treibt mir Röte und Wärme ins Gesicht. Außerdem besitze ich plötzlich Knie aus Gummi. Schrecklich. Ich hasse es, dieses lebende Klischee zu sein. Denn ja, natürlich bin ich in den Doktor verknallt. Ein bisschen zumindest. Na gut, ziemlich. Aber hoffnungslos. Schließlich ist er verheiratet und hat zwei Kinder, so viel ich weiß.

      Ich wende mich um und schaue ihn erwartungsvoll an. Wird er mich endlich, endlich in die Arme nehmen und küssen?

      Leider ist mir kurz entgangen, dass ich gerade nicht in einer meiner Lieblingsserien unterwegs bin.

      „Könnten Sie bitte mal in der Drei nachsehen! Frau Eberhard braucht ihre Hilfe“, nüchtern sagt er das. Ohne den geringsten Hauch von Charme.

      „Aber natürlich, Herr Doktor“, sage ich und lächele ihn an. Doch da hat er sich schon wieder umgedreht und ist weiter den Gang hinuntergeeilt.

      Und ich muss in die entgegengesetzte Richtung. Zu Frau Eberhard.

      Dr. Franzen sieht tatsächlich immerhin so aus wie die Männer aus meinen türkischen Lieblingsserien und Bollywood-Filmen, die ich Dank Netflix sehen kann. Sie sind meist dunkelhaarig, tragen Dreitagebärte oder einen Schnauzbart und haben wunderbar geformte, starke Arme. Allein bei dem Gedanken an diese Arme, wird es in meiner Körpermitte ganz weich, warm und sehnsüchtig. Aber genug geträumt. Weiter geht’s, immer weiter. Zur Drei, zu Frau Eberhard.

      Das Seniorenheim „Zum kleinen Apfelbaum“, in dem ich nun immerhin schon fünf Jahre arbeite, gehört übrigens zu den besseren Einrichtungen seiner Art. Die Einwohner können ihre eigenen Möbel mitbringen und ihren ganzen Nippes noch dazu und sie in die zwischen zwanzig und siebzig Quadratmeter großen Appartements stellen – je nach Geldbörse. Das ist prima für die Privatsphäre, hat der Träger der Einrichtung beschlossen. Zu jeder Wohnung gehört ein Balkon, manchmal sogar eine Terrasse. Die Bewohner können uns Schwestern rufen, wann immer sie etwas auf dem Herzen haben – so eine Art betreutes Wohnen ist das hier. Auch so schauen wir regelmäßig vorbei – für routinemäßige Untersuchungen, wie Blutdruckmessen oder Herz abhören. Außerdem achten wir darauf, dass die etwas Vergesslicheren ihre Medikamente pünktlich einnehmen. Einige von uns, ich gehöre dazu, leisten den Menschen auch immer mal Gesellschaft, wenn sie sonst nicht viel Besuch bekommen. Wir spielen Uno oder Mensch ärgere dich nicht mit ihnen, oder was sie sonst für Spiele im Wohnzimmer Schrank haben. Cluedo war auch schon dabei, aber da gehören mehrere Spieler dazu. Oder das Spiel mit der Burg, ich habe gerade den Namen vergessen. Frau Eberhard spielt das so gerne. Allerdings ist sie eine totale Pfuscherin. Wenn ihr die gewürfelte Zahl nicht gefällt, würfelt sie einfach noch mal. Oder sie würfelt so, dass der Würfel unter den Tisch fällt. Sie hebt ihn dann auf und legt die Zahl nach oben, die ihr in den Kram passt.

      Ich finde das okay, ich muss nicht immer Recht haben. Hauptsache, sie hat ihren Spaß. Und sie ist eine echt schlechte Verliererin. Ich lasse sie daher eh meistens gewinnen.

      Eigentlich sind wir hier eher Kümmerer, als Schwestern und Pfleger. So lassen sich die letzten Lebensjahre jedenfalls gut verbringen, da sind wir uns hier alle einig – Kümmerer wie Bewohner.

      Ich habe schon ganz andere Zustände erlebt.

      Teilweise waren wir in anderen Heimen so unterbesetzt, dass ich die Bewohner regelmäßig dehydriert und apathisch vorgefunden haben, mit Maden unter den Achseln.

      Es war wirklich abscheulich dort und menschenunwürdig. Für die Einrichtung absolut beschämend.

      Ich habe dort versucht überall gleichzeitig zu sein und jedem Einzelnen genug Aufmerksamkeit zu schenken. Aber das konnte mir natürlich nicht gelingen und irgendwann bin ich in meinem Hamsterrad regelrecht durchgedreht. Ich war so ausgebrannt, dass ich gehen musste, um nicht auch noch vor die Hunde zu gehen. Das fiel mir schwer, denn ich habe ja die lieben alten Leutchen ihrem Schicksal überlassen. Ich hatte große Schuldgefühle deswegen. Ich habe dann aber einsehen müssen, dass ihre Leben nicht von mir abhingen. Es musste sich grundsätzlich etwas ändern in der Einrichtung.

      Meine Therapeutin, Frau S., sah natürlich noch viel mehr in meinem Verhalten, als das vergebliche, sisyphosartige Anrennen gegen schlimme Zustände. Sie ist schließlich Therapeutin und balanciert meist über die Metaebene.

      Sie sagte mir, ich würde nicht damit klarkommen, dass ich den Tod meiner Eltern nicht hätte verhindern können. Im Heim hätte ich versucht, alles Menschenmögliche zu geben, um all die dort Lebenden zu retten oder ihnen zumindest ein wertes Leben zu ermöglichen. Aber das sei illusorisch und zum Scheitern verurteilt gewesen. Ich sei an meinen eigenen Ansprüchen zerbrochen.

      Na ja, ich habe es jedenfalls überlebt.

      Nach einem Jahr Schonzeit habe ich mich dann im Seniorenheim „Zum kleinen Apfelbaum“ beworben. Der Name erschien mir so hoffnungsvoll und lebensbejahend, dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass es dort ähnlich menschenverachtend zugehen könnte, wie an meinem vorherigen Arbeitsplatz. Und genauso ist es.

      Ich habe das Gefühl, dass in diesem Heim die Menschen noch gesehen werden, und nicht einfach nur auslaufende Nummern sind.

      Auch die zuständigen Ärzte sind fähig und freundlich. Vor allem natürlich Doktor Franzen. Aber er sieht dazu auch noch umwerfend aus. Finde ich jedenfalls.

      Es gibt neben dem Seniorenheim übrigens nicht nur einen kleinen Apfelbaum, sondern gleich eine ganze Streuobstwiese. Zwischen den Apfelbäumen mit alten Sorten wie Berlepsch und Topaz steht auch der eine oder andere Birnenbaum. Bewohner, die noch können und Schwestern, die Lust dazu haben, sammeln die Früchte gemeinsam im Laufe des Spätsommers. Dann gibt es frischen Apfelsaft aus der großen Presse, die der Koch angeschafft hat.

      Frau Meier, eine Bewohnerin des Heims, kocht köstlich-zimtiges Apfelkompott und macht es ein. Ich backe gedeckten Apfelkuchen, nach einem Rezept meiner Mutter. Und auch unter den Bewohnerinnen ist immer eine, die ein leckeres Kuchenrezept kennt und Kuchen beisteuert.

      So, jetzt bin ich bei der Nummer Drei angekommen. Und auch wenn Herr Dr. Franzen mich nicht explizit darum gebeten hätte, wäre ich als erstes bei Frau Eberhard vorbeigegangen. Sie ist einer