Wo ist denn eigentlich dieses Glück?. Katja Pelzer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Katja Pelzer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748599517
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schwarzer Anzug unterstreicht seine kraftvolle Statur.

      In seinen Augen leuchtet etwas Dunkles, Warmes.

      Erwartungsvoll schaut sie ihn an.

      Er bleibt vor ihr stehen.

      Er neigt seinen Kopf herab.

      Und dann. Endlich ...

      Küsst er sie.

      „Endlich“, seufze ich. „Oh Gott, endlich!“

      Es war wirklich kaum auszuhalten gewesen! Über vierzig Folgen meiner türkischen Lieblingsserie musste ich durchstehen – mit unendlich vielen Intrigen, die diesen Kuss immer wieder verhindert haben.

      Ein paarmal hätten die Beiden sich sogar endgültig verloren, wären tot und für immer getrennt gewesen.

      So viel Drama, dass mir manchmal die Puste weggeblieben ist, vor Entsetzen und Verzweiflung. Und das alles auf Türkisch. Mit deutschen Untertiteln. Auf Netflix. Meinem einzigen Zugeständnis an die Erfindung Internet.

      Und jetzt küsst Kamran Feride! Endlich!

      Erleichtert schließe ich die Augen und kurz habe ich das Gefühl, als hielten Kamrans starke Arme mich.

      Mich! Alice, ausgebildete Krankenschwester, weder klein noch sonderlich groß. Ich halte mich für ein bisschen zu dick. Meine Freundinnen finden das weiblich. Meine Locken sind kastanienbraun, schulterlang und meist in einem Dutt zusammengefasst. Meine Haut ist im Kontrast dazu hell und sommersprossig. Meine Augen gleichen dunkelblau-weiß gesprenkelten Murmeln, sagt Iris, meine Nachbarin, Freundin und Buchhändlerin. Ich finde mich blass, Iris findet mich schön. Aber wahrscheinlich möchte sie einfach nur nett sein und erreichen, dass ich mich wohlfühle. Ich kann ohnehin schlecht damit umgehen, wenn jemand etwas Positives über mich sagt. Ich weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll. Das habe ich nicht gelernt. Meine Eltern haben mich zur Bescheidenheit erzogen, denn sie waren selbst bescheidene Menschen. Eitelkeit hatte da keinen Platz.

      Jedenfalls halten die Arme des attraktiven türkischen Schauspielers natürlich nicht mich, sondern die schöne zarte Schauspielerin mit den dunklen Mandelaugen, den rabenschwarzen Haaren und der Wespentaille. Sie sind mittlerweile auch in der wirklichen Welt verheiratet. So ein schönes Paar! Was sind die beiden doch für Glückspilze!

      Wenn in der Fiktion alles aussichtslos zu sein scheint und sie einfach nicht zueinander finden, beruhigt mich jedes Mal, dass sie sich in Wirklichkeit ja längst bekommen haben.

      Kapitel Zwei

      Meine Realität ist weniger romantisch. Genaugenommen überhaupt nicht romantisch. Ich arbeite viel und bin von Berufs wegen von morgens bis abends für Andere da.

      Jetzt gerade befinde ich mich auf dem Weg zur Arbeit. Zu Fuß.

      Vor mir geht ein alter Mann die Straße entlang. Er stützt sich auf einen Stock. Sein Pullover ist am Rücken ein ganzes Stück hochgerutscht und lässt sein Karohemd hervorschauen. Das ist so natürlich nicht gedacht. Dieses Verrutschte, Unperfekte rührt mich, rührt aber irgendwie auch an meinen Ordnungssinn. Dabei kenne ich den Mann ja gar nicht. Wahrscheinlich ist er alleinstehend und reicht mit dem Arm nicht bis zu seinem Rücken, denke ich. Vielleicht hat er es auch gar nicht bemerkt. Aber ich wünsche mir immer, dass es allen gut geht und kann irgendwie nicht aus meiner Haut. Ich schließe also zu dem Mann auf und ziehe seinen Pullover rasch, aber sanft herunter. Flugs geht das. Aber der Mann fährt so ruckartig herum, dass er aus dem Gleichgewicht gerät und gegen mich taumelt. Ich fange ihn auf. Mit beiden Armen, und stemme meine Beine in den Boden, um nicht umzukippen.

      „Verzeihung, aber Ihr Pullover war verrutscht!“, sage ich mit leicht belegter Stimme.

       Oh Gott, wie ist mir das peinlich!

      Der Mann schaut mich ziemlich verdutzt, aber nicht unfreundlich an.

      „Alles in Ordnung?“ frage ich, während ich am liebsten im Boden versinken möchte. Was habe ich mir nur dabei gedacht?

      Der Mann nickt, schaut mich aus kleinen freundlichen blauen Augen an und sagt beinahe entschuldigend: „Ich dachte, jemand wollte mir mein Portemonnaie stibitzen.“

      Lächelnd schüttele ich den Kopf. „Aber nein.“

      Jeder rechnet immer direkt mit dem Schlimmsten. Dabei brauchen sie doch alle nur Zuwendung. Ganz viel Zuwendung!

      Ich lasse den Mann wieder los und auf seinen eigenen Beinen stehen.

      „Wirklich alles in Ordnung?“, wiederhole ich meine Frage.

      „Ja, danke. Sie sind sehr liebenswürdig.“

      Ich strahle ihn an. War wohl doch gut, dass ich seinen Pullover in Ordnung gebracht habe.

      „Schönen Tag!“ sage ich und winke ihm noch einmal zu.

      „Danke“, sagt der Mann noch einmal „Ihnen auch.“

      Dann eile ich weiter.

      „Krieg macht Flucht“ hat jemand mit gelben Lettern irgendwo auf die steinerne Oberfläche des Bürgersteigs gesprüht, ganz akkurat, sicher mit Hilfe einer Schablone. Ich gehe darüber hinweg, obwohl diese gelben Worte mich keineswegs kalt lassen. Aber ich muss nun mal weiter, komme sonst zu spät. Was hätte ich auch tun sollen? Etwa darunterschreiben – „gefällt mir“?

      Eine Frau mit Einkaufstüten rempelt mich im Vorübergehen an. Ich rufe „Entschuldigung.“

      Sie hat, wohlgemerkt, nicht auf ihr Handy geschaut, während sie mich angerempelt hat. Nein, sie hat mich sehenden Auges umgerannt. Das passiert mir ständig, als würde ich einen Umhang tragen, der mich unsichtbar macht. Und ja, ich gehöre auch zu den Menschen, die sich selbst für Sachen entschuldigen, für die sie gar nichts können. Beinahe im selben Moment denke ich jetzt allerdings wie bescheuert das ist.

      Ich laufe weiter. Einen Fuß vor den anderen. So wird ein Weg draus.

      Ich bin eigentlich kein hektischer Mensch, aber irgendwie dennoch immer schnell unterwegs. Als sei jemand hinter mir her. Ich selbst bin es vermutlich. Oder meine hohen Ansprüche an mein Tagespensum.

       So, da bin ich...

      Ich straffe meinen Rücken, nehme eine positive Haltung ein und öffne die Tür des Seniorenheims, in dem ich als Pflegeschwester arbeite. In Schichten. Immer acht Stunden. Wie ein Uhrwerk.

      Der Bau ist aus Glas und viel Holz, modern und leicht gebaut, als wollte er die Schicksale kontrastieren, die in seinem Inneren in ihre letzte Phase treten.

      Ich gehe den hellen Flur des Eingangsbereichs entlang, grüße Christel, die am Empfang sitzt und mich freundlich zurückgrüßt und betrete den langen, etwas weniger hellen Flur zu unserem Aufenthaltsraum.

      Aus der Kantine kriecht ein Geruch nach Sauerkraut und gepökeltem Schweinefleisch. Er hat bereits große Teile des Flurs erobert, obwohl es erst neun Uhr morgens ist.

      Eine der Nachtschwestern kommt mir entgegen, grüßt knapp und sagt emotionslos:

      „Herr Schroer ist heute Nacht um eins gestorben.“

      Wo täglich gestorben wird, sind Emotionen Luxus.

      Ich nicke, während leichter Ekel in mir hochsteigt, als ich kurz das teigig-bleiche Gesicht von Herrn Schroer vor meinem geistigen Auge sehe. Sofort schäme ich mich dafür. Aber es ist so, dass Herr Schroer ziemlich große Hände hatte, mit denen er uns Schwestern gerne an sich gezogen hat. Wahllos, wen er eben zu packen kriegte.

      „Schwesterchen“ hat er mich immer genannt.

      „Setz dich doch zu mir!“, hat er gerufen, wenn ich auf der Pflegestation nach ihm gesehen habe.

      Er hat immer sehr laut gesprochen, weil er schlecht hörte. Aber natürlich habe ich mich nicht zu ihm aufs Bett gesetzt. Also bitte!

      Hin und wieder habe ich ihm mal über den