Mit geschlossenen Augen verharrte Jarick mittig des Raumes, bereit, jederzeit das Schwert todbringend seinen Gegner entgegen zu strecken. Noch lag Billarehtu locker in seiner rechten Hand. Das Schwert, das er einst selbst in der heißen Esse der Feuerwelt schmiedete, fing das schwache Licht ein und glänzte in einem zarten Silberton, sodann erschien auf der Klinge in den uralten Schriftzeichen sein Name: Billarehtu. Das rudimentäre Emblem der Gerichtslinde Tilia schmückte die Parierstange. Versteckt in den Verzierungen befand sich das Symbol der Alvaren als Widmung an die vergangenen und bevorstehenden Bündnisse. Auf dem Kopf des Knaufs war das kunstvolle Wappen seines Besitzers eingelassen. Unter der Linde, umringt von zwölf Steinen, stand sein Herrschersitz, auf dessen Rückenlehne ein Kauz ruhte und auf dessen Sitzfläche Billarehtu, das Schwert des Rechts, mit dem Ort gen Himmel thronte.
All seine Sinne richtete Jarick auf seine Umgebung. Noch waren die Drauger nicht in der Nähe des Anwesens. Noch bestand die Möglichkeit, dass die Todesdrohung nur ein leeres Versprechen war. Demzufolge würde es keinen Angriff geben, in dem Drauger sterben mussten, die dem Narren eines Tyrannen folgten. Allerdings besaß Theo Frankus eine grausame Ader, vor allem wenn es um den Erhalt seiner Macht ging. Der Draugerjarl besaß eine bizarre Vorliebe für niederträchtige Untertanen. Normalerweise suchte Theo Frankus, zwar umgeben von seinen Lakaien, den direkten Konflikt mit seinem Konkurrenten, aber sein Than Fido spielte gerne Verwirrspielchen, um dann hinterhältig zuzuschlagen.
Geduldig, alle ablenkenden Gefühle von sich schiebend, wartete Jarick auf den Moment des Kampfes.
Obwohl die Handlanger das Anwesen lautlos betraten, nahm Jarick sie augenblicklich wahr. Wie erwartet, handelte es sich um junge Drauger, der Älteste zählte höchstens hundert Lenze. Gewiss gab es gute Kämpfer unter ihnen, aber konnten sie es mit einem Asen, einem Gott aufnehmen? Jarick bezweifelte es. Ein Jammer, wenn die sechs Recken ihr neues, noch so kurzes Leben für diese Nichtigkeit lassen mussten. Wenn Theo Frankus ein wahres Oberhaupt seines Ordens wäre, würde er selbst sich seinem Gegner stellen und die Angelegenheit regeln.
Jarick ließ die Angreifer genau wissen, wo er sich in der Villa befand. Es wäre doch unnötig verschwendete Zeit, wenn sie ihn erst suchen müssten. Zügig näherten sich die Eindringlinge dem Gebäude, dabei teilten sie sich in zwei Gruppen. Eine wartete zögernd vor der unverschlossenen Haustür, während die andere sich der Terrassentür näherte. Kurz verharrten sie, prüften die Umgebung auf eine mögliche Falle. Ein Drauger machte sich ans Werk, die Tür leise aufzubrechen. Naiv flüsterte er: „Die haben vergessen, die Tür zu verriegeln.“ Als der Anführer der Gartengruppe den stummen Befehl zum Angriff gab, schloss er eine Gefährdung seiner Untergebenen aus. Wie falsch er doch mit dieser Einschätzung lag, denn im Innern der Villa erwartete sie ein göttergleicher Krieger.
Jaricks Hand schloss sich fester um das Heft Billarehtus, als die drei Drauger blindlings durch das Wohnzimmer ins Foyer stürmten. Im Garten flatterte Winifred aufgebracht mit ihren Flügeln, dabei Warnrufe ausstoßend.
***
Unruhig saß Nela neben Tristan in der engen Geheimkammer hinter der Apfelblütentapete. Vergebens strengte sie ihr Gehör an, um irgendeinen Hinweis über Jarick zu bekommen. Aber der Raum schirmte jegliches Geräusch von draußen ab, genauso wie er jedes innere gefangen hielt. Nur ihren eigenen Herzschlag und das nervenaufreibende Fingertrommeln auf der Holzplatte des Apfelkerntisches schallten in ihrem Gehörgang.
Möglichst viel Zuversicht ausstrahlend, sah die Walküre zu ihrem Wächter, beruhigend legte Nela ihre Hand auf seine. Augenblicklich erstarb das Trommeln. „Sie finden dich nicht“, flüsterte sie ihm hoffnungsvoll zu. Nur zu gut verstand Nela das lähmende Gefühl der Angst, wenn ein Feind das eigene Leben bedrohte. Tristans Blick wandte sich erneut dem Eingang zu, der von Tills breitem Kreuz verdeckt wurde. Verteidigungsbereit verharrte der Huscarl auf dem beengten Platz. Falls ein feindlicher Drauger es dennoch schaffte, die geheime Tür zu finden und diese gar zu öffnen, würde der Eindringling sofort von Tills Schwert willkommen geheißen.
Jaricks Befehl an den Huscarl hallte in ihren Ohren wider: „Verteidige sie mit deinem Leben!“ Aber wer verteidigte ihren geliebten Wikinger? Bei dem Gedanken, er könne sein Leben verlieren, schnürte sich ihre Kehle zu. Mochte er auch ein mächtiger Ase sein, trotzdem bangte Nela um sein Wohlergehen.
„Till, du musst Jarick helfen“, bat Nela den Drauger flehend, weil seine kriegerischen Fähigkeiten in dieser Geheimkammer nur unnütz vergeudet wurden. Sein Platz befand sich im Foyer, um die Angreifer mit Jarick zusammen in die Flucht zu schlagen.
„Mein Platz ist hier“, erwiderte er stoisch, ohne sich zu ihr umzudrehen.
„Tristan und ich sind in dieser Kammer sicher, aber Jarick kämpft alleine“, versetzte Nela.
„Er ist ein sehr guter Krieger“, versuchte Till, die junge Walküre nachdrücklich zu beruhigen.
„Selbst der beste Krieger trifft irgendwann jemanden, dem er unterliegt.“ Dem konnte Till nicht widersprechen.
„Selbst, wenn dieser Krieger heute unter den Angreifern wäre, verlasse ich keinesfalls meinen Posten, Nela. Deine Sorge ist unbegründet, weil die Eindringlinge alle viel zu jung und unerfahren sind.“
„Kämpfen sie schon?“, wollte Tristan angespannt wissen.
„Ja“, bestätigte Till einsilbig in seiner bewegungslosen Haltung vor der verschlossenen Stahltür.
„Weißt du, was sich gerade im Foyer abspielt?“, wollte Nela angespannt wissen.
„Nein. Leider kann ich den Kampf nicht hören, weil dieser Raum schallisoliert ist. Zudem nehme ich auch keine Aura der Eindringlinge wahr. Irgendetwas, vermutlich Mistelholz, in den Wänden schwächt meine Fähigkeiten.“
„Kannst du Jarick spüren?“, hoffte Nela.
„Ja, aber nur sehr schwach durchdringt seine mächtige Aura den Schutzwall.“ Erleichtert atmete Nela auf.
Die Zeit verstrich. Unzählige Male fragte Nela den Huscarl nach ihrem Wikinger. Jedes Mal gab er ihr dieselbe Antwort: „Er lebt.“ Till wollte sie nur mit seiner Äußerung beruhigen. Der Drauger wusste nicht, was sich außerhalb der Geheimkammer ereignete.
Abrupt sprang Nela auf. „Ich kann hier nicht länger untätig warten!“
Blitzschnell drehte Till sich um. „Du bleibst!“, befahl er energisch.
„Geh mir aus dem Weg!“, forderte Nela den Huscarl auf.
„Nein! Zwing mich nicht, dich mit Gewalt zu halten, Nela“, warnte Till sie.
„Das wagst du nicht!“
„Oh doch! Jarick wird mich pfählen, wenn ich dich hinauslasse.“ Gefasst erkannte Nela, dass Tills Befehl lautete, genau darauf zu achten, dass die beiden Elhazen dort blieben, wo Jarick sie versteckt hatte.
***
Unüberlegt stürmten die ersten drei Drauger mit erhobenen Waffen auf den Lysanen zu, während die anderen drei wachsam zur Haustür hereinschlichen. Kurz bevor die Unbedachten Jarick erreichten, ließ er den Jünglingen seine mächtige Asenaura spüren. Überrumpelt von dieser ungewohnten Macht stockten sie in ihrem Angriff. In diesem Moment musste der drauganische Instinkt ihnen verraten, dass ihnen ein Lysane gegenüber stand, der mächtiger als ihr Oberhaupt war.
„Wenn Euch Euer Leben lieb ist, dann verschwindet“, warnte Jarick mit tiefer, machtvoller Stimme. Unheilvoll hallten seine Worte in der Vorhalle wider. Trotzdem griff ihn ein wutschnaubender Drauger aus der leichtsinnigen Gartengruppe mit einem Dolch an. Blitzschnell schwang Jarick sein Schwert, daraufhin flog der Dolch, immer noch das Heft von der Hand umklammert, durch die Luft, während der Drauger schmerzerfüllt aufschrie. Taumelnd, um seine Wunden zu lecken, zog er sich in eine dunkle Ecke zurück.
Blind vor Wut attackierten seine beiden Kumpanen Jarick, auch diese nur mit kurzen Stichwaffen gegen den bevorstehenden Kampf gerüstet. Jarick reagierte, brachte Billarehtu in