„Natürlich ist das Geheimversteck des Großpriors der Elhazen sicher“, sagte Till begeistert. „Ich werde ...“ Noch bevor er das letzte Wort aussprach, verschwand der Drauger geisterhaft. Eigenartig verzerrt hallte das Wort „...weitermachen.“ im Raum.
„Wo ist Till?“, sah Nela sich erstaunt um.
„Im Foyer. Für dein menschliches Auge hat er sich zu schnell bewegt“, erklärte Jarick. Nachdenklich ging er zum Schreibtisch, dort nahm er das Wappenbuch, in dem Nela zuvor las, in die Hand.
„Besitzt du auch ein Wappen?“
„Ja“, antwortete Jarick wortkarg. Daher hakte Nela gleich nach: „Wie sieht es aus?“ Bisher entdeckte sie sein Emblem nicht in dem dicken Wälzer.
Bedächtig legte er das Buch zurück und drehte sich zu ihr. „Nela, ich war, nein, ich bin wütend auf mich selbst, weil ich dich gebissen habe. Ich verlor die Kontrolle über mein lysanisches Ich und missbrauchte damit dein Vertrauen.“ Jetzt verstand Nela sein in sich gekehrtes Verhalten. Ihr Wikinger kämpfte mit seinem schlechten Gewissen, welches in ihren Augen keinerlei Berechtigung hatte. Auf keinen Fall durfte sein schlechtes Gewissen zu einer unsichtbaren Mauer zwischen ihnen werden, daher holte Nela aus, um das Fundament mit allen nötigen Mitteln zu zerstören.
„Ich muss zugeben, dass ich zu wenig über dich, über dein Dasein als Lysane weiß. Schon längst hätte ich mich ausgiebig über Lysane informieren müssen, aber ich möchte es von dir erfahren, wer und was du bist. Natürlich kann ich nicht einschätzen, welche Konsequenzen deine Kontrollverluste haben, aber der Biss war definitiv keiner. Nicht für mich! Dein Biss war unglaublich! Nach meiner Erfahrung mit diesem frevlerischen Drauger habe ich nicht erwartet, dass ein Biss solch fantastische Gefühle auslösen kann. Die ganze Zeit vertraute ich dir voll und ganz. Du hast mein Vertrauen nicht missbraucht, Jarick“, platzte es aus Nela heraus.
Sanft nahm Jarick sie in den Arm und drückte ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. Dort verweilten seine Lippen, als er flüsterte: „Es war ein ganz besonderer Biss, Nela.“
„Ja, er war magisch“, entfuhr es ihr begeistert. „Ich weiß, dass du hin und wieder frisches Blut von Blotjas trinkst. Wage es nicht, sonst jemanden diesen besonderen Biss zu geben!“
„Das verspreche ich dir! Du bist und wirst die Einzige sein.“ Seine Augen nahmen ihre gefangen, langsam senkte sein Mund sich auf ihren. Sanft liebkoste er ihre Lippen. „Dennoch hätte ich dich vorher über das Beißen, über die unterschiedlichen Arten aufklären müssen und ...“ Verzweifelt suchte er nach den richtigen Worten. Geduldig wartete sie. „Nela, du bist eine sehr bedeutende Lidam meiner Sebjo.“
Freudestrahlend sah sie ihn an. „Du gehörst auch zu meiner neuen Familie.“
Sofort war Nela alarmiert, als sie seine ernste Mimik bemerkte. Dieser selbstquälerische Ausdruck in seinen Augen versprach nichts Gutes. „Ich rede nicht von einer emotionalen Aufnahme in eine Familie. Ohne dein Wissen und ohne meine Absicht nahm ich dich in meine Sebjo auf. Du gehörst jetzt mir.“
Definitiv machte Jarick ihr keine romantische Liebeserklärung, sondern sprach von Zugehörigkeiten in einer archaischen Welt. Ahnungslos ließ Nela sich auf eine Samana mit ihrem Wikinger ein, ohne jegliches Wissen über die Lebensweise der Lysanen. Ungewollt, ungefragt, unwissend wurde sie zu einer Lidam seiner Sebjo. Jetzt erkannte sie, dass Jarick tatsächlich ihr naives Vertrauen ausgenutzt hatte.
„Du hättest mich fragen müssen!“, platzte es aus Nela heraus. „Du kannst mich doch nicht einfach zu einer Lidam, zu einer Untertanin machen!“
„Nela, du bist keine Untertanin“, widersprach Jarick vehement. „Lidam bedeutet Mitglied, nicht Untertan.“
„Was bin ich denn sonst?“, entfuhr es Nela ungehalten, doch Jarick schwieg.
Nach einem Augenblick des Schweigens nahm Jarick sie bei den Schultern, sein Blick bohrte sich eindringlich in ihren. „Niemand weiß von der Aufnahme. Niemand muss es erfahren. Es bleibt unser Geheimnis. Ich werde keinen Anspruch auf dich erheben. Du bleibst Lunela Vanadis, die zukünftige Großpriorin des Ordens Elhaz in Midgard.“
Das klang alles so formell und gefühllos. „Was ist, wenn ich möchte, dass du deinen Anspruch geltend machst?“ Nela konnte es nicht fassen, dass sie diese Frage tatsächlich stellte. Sie strebte kein Leben als Untertanin an, sie wollte ein freier, unabhängiger Mensch sein. Allerdings wünschte sie sich sehnlichst, mit Jarick gleichberechtigt eine Liebesbeziehung innerhalb eines Familienbundes zu führen.
„Wenn ich dich öffentlich als meine Lidam beanspruche, trete ich eine Lawine los, die uns unaufhaltsam überrollen wird“, gestand Jarick niedergebeugt.
„Jarick, wir lieben uns. Wir sind ein Paar. Wenn ich die Entscheidung treffe, zu deiner Sebjo zu gehören, dann kann mir das niemand verwehren!“
„So einfach ist das leider nicht, Nela. Kein Hahn kräht danach, wenn ein Lysane mit einer Walküre eine unverfängliche Samana eingeht, aber sobald diese Samana eine offizielle, unauflösliche Verbindung erhält, interessiert es die Vorderen. Dann spielen nur noch politische, gesellschaftliche und persönliche Interessen der Mächtigen eine Rolle. Es tut mir leid, Minamia. Auf diese Art und Weise hätte ich dich nicht beißen dürfen. Ich bereue sehr, dass ich dich nicht gefragt habe, dass ich nicht dein Einverständnis, dein Ja-Wort zu der Arwa hatte. Ich bereue, dass ich uns in diese verzwickte Situation gebracht habe, die uns zum Verhängnis werden kann. Aber dennoch bereue ich niemals, dass ich dich mit diesem besonderen Biss an mich gebunden habe.“ Mit diesen Worten ließ er sie alleine in dem Arbeitszimmer zurück.
***
Dunkelheit umgab ihn, das Branden des Meeres rauschte immerfort in seinen Ohren. Unmöglich konnte er bestimmen, wie lange er schon in seinem nasskalten Verlies ausharrte. Durst und Hunger quälten seinen Körper, während das Unwissen über seinen Entführer seinen Verstand peinigte.
„Armin, Armin“, tadelte aus dem schwarzen Nichts eine weibliche Stimme. Erschrocken fuhr er zusammen. War sie ein Gespinst seines entkräfteten Verstandes?
„Wer bist du?“, stieß er beängstigt aus.
„Deine Fylgja“, antwortete die Stimme unheilvoll.
„Ich kann dich nicht sehen, also kommst du wohl nicht, um mich ins Reich der Toten zu holen“, bezweifelte Armin die Existenz der Folgegeister, dennoch starrte er gebannt in die Dunkelheit.
„Noch ist deine Zeit nicht gekommen, Armin“, erwiderte seine angebliche Fylgja, als ihn ein kalter Lufthauch streifte.
„Was willst du von mir?“
„Du bist eine dienliche Figur in meinem aufregenden Spiel“, verkündete sie begeistert.
„Wenn ich kein Wasser und Brot erhalte, werde ich in Kürze eine tote Figur in deinem Spiel sein, Fylgja“, sicherte Armin zuerst sein Überleben, bevor sich sein Verstand mit dieser Spielerin auseinandersetze.
„Mein Diener wird dir regelmäßig Nahrung bringen“, versprach sie.
„Wie heißt das Spiel?“
„Deurias Sebjo“, antwortete sie feierlich.
„Ich gehöre nicht zu Deurias Sebjo. Welche Rolle spiele ich in deinen Ränken?“
„Laut den Gesetzeshütern bist du der Mörder der Familie Vanadis.“
„Ich war es nicht“, schwor Armin aufbrausend.
„Ich weiß“, gestand die Spielerin, bevor sie sich mit kaum hörbaren Schritten entfernte.
„Warte!“, rief Armin ihr verzweifelt hinterher. „Lass mich nicht unwissend im Dunkeln zurück.“
Einer gegen alle
Es war dunkel im Foyer, nur das schwache Licht des Mondes hüllte die Dunkelheit in einen trüben Schleier,