„Frau Vanadis, bitte. Alles deutet darauf hin, dass Armin Falk Ihre Familie auf dem Gewissen hat und auch Sie töten will“, mahnte Herr Diepolt sie eindringlich. Vehement schüttelte Nela ihren Kopf, und für einen kurzen Moment blieb ihre Kehle verschnürt.
„Armin war der beste Freund meines Vaters. Er ist mit Leib und Seele Journalist, ein Verfechter der Menschenrechte... Er...“
„Es ist nicht leicht, wenn man herausfindet, dass man sich in einem Menschen getäuscht hat, vor allem nicht, wenn dieser ein Freund der Familie ist. Bitte seien Sie auf der Hut, Frau Vanadis.“
„Das bin ich, denn immerhin läuft der Mörder meiner Familie frei herum“, erwiderte Nela ernst. „Meine Villa hat sich in einen Hochsicherheitstrakt verwandelt. Da fragt man sich wirklich, wer am Ende die eingesperrte Person ist.“
„Es ist traurig, dass Sie solche einschneidenden Maßnahmen ergreifen mussten, um in Sicherheit leben zu können“, fühlte Herr Lorenz mit Nela, bevor sich die Kriminalbeamten verabschiedeten.
„Was wollten sie?“, betrat Jarick neugierig das Wohnzimmer.
In der Zwischenzeit hatte er sich die gängige Alltagskleidung der Midgardbewohner übergestreift. Fortwährend ein ungewohntes Bild für Nela, ihren Wikinger in Jeans und Shirt zu sehen. Sie schmeichelte seiner männlichen Figur genauso gut wie seine Asgardgewandung.
„Armin Falk ist aus seiner Zelle verschwunden“, antwortete sie gedankenversunken. Wer entführte Armin aus seiner Zelle? Schwebt er in Lebensgefahr? Wird er mich um Hilfe bitten?
„Gewiss wird er zuerst hier nach dir suchen, deshalb werden wir so schnell wie möglich an einen sicheren Ort gehen“, entschied der Lysane übereilt.
„Nein! Verdammt noch mal, Armin wird mich nicht suchen, er wird mich brauchen. Er ist kein Mörder, und er trachtet nicht nach meinem Leben“, gab Nela eindringlich zurück.
„Dieser Ort ist keine gute Wahl, Nela. Dein Feind, egal, wer er auch sein mag, weiß, wo du bist. Jederzeit kann er dich angreifen“, überdachte Jarick ihren Aufenthaltsort.
„Dies ist mein Zuhause. Außerdem sind die Bücher meines Vaters hier.“ Was für eine erbärmliche Argumentation. Jarick hatte mit jedem Wort Recht, doch sie ließ sich nicht von ihrem Feind vertreiben.
„Es gibt den Ordensmitgliedern Hoffnung, wenn sie wissen, dass Nela in Lüneburg ist. Ihre Anwesenheit gibt ihnen die Kraft auszuharren, bis der Tag gekommen ist, an dem eine Vanadis wieder die Großpriorin wird“, nannte Tristan, der soeben das Wohnzimmer betrat, einen Grund, weshalb die zukünftige Großpriorin in dieser Villa verweilen sollte. Allerdings stimmte sein vielsagender Blick Jaricks Ansicht zu. Am liebsten sähe er seine Walküre an einem geheimen Ort.
„Ehrlich gesagt, ist mir die Hoffnung der Elhazen gleichgültig. Für mich zählt nur die Sicherheit meiner Minamia“, entgegnete Jarick mit einer rücksichtslosen Konsequenz, die Nela zwar erschrak, aber auch schmeichelte. Lysane verhielten sich sehr besitzergreifend ihren Lieben gegenüber. Auch Jarick fiel es sehr schwer, diesen Anspruch zu zügeln oder gar aufzugeben. Für ihn zählte im Moment nur die Sicherheit seiner Liebe, obwohl ihm Nelas Verpflichtung durchaus bewusst war.
„Wenn ich mich verstecke, wirke ich wie eine verängstigte Unwissende, die nicht die Kraft hat, ihr Geburtsrecht einzufordern. Ansgar Ferdinand soll wissen, dass ich mir zurückhole, was er meinem Vater gestohlen hat. Die Elhazen sollen wissen, dass ich gegen diese Tyrannei vorgehen werde. Deshalb bleibe ich hier!“, beschloss Nela erhaben, aber mit einem unguten Gefühl. Zwar wollte Nela ihrem toten Vater Gerechtigkeit widerfahren lassen, aber sie wollte keine Gefangene der aufopfernden Pflichten ihres Geburtsrechts werden.
„Natürlich, Priorin Vanadis“, stimmte Jarick ihr zu, während sein Blick ihr unmissverständlich zu verstehen gab, dass er ihre Bestimmung respektierte, aber sie ihm in Bezug auf ihre Sicherheit vertrauen musste.
„Für mich ist es nicht leicht, hier zu sein“, gestand Nela.
Winifred hockte sich zufrieden auf ihren Ast der Linde, drehte ihren Kopf nach links, schaute mit ihren schwarzen Knopfaugen über ihre Schulter und behielt Nela im Blick.
Von Falken und Gauklern
Sich Nelas Willen vorläufig beugend, verschaffte Jarick sich einen Überblick über die Sicherheit der Villa.
Besonders die Nachricht über Armin Falks Flucht beunruhigte ihn sehr. Selbst wenn Nela Recht hatte und Armin das Opfer einer perfiden Intrige war, gab es dennoch Grund zur Sorge. Wer verbarg sich hinter den Initialen A. F.? Möglichst bald musste er eine Antwort finden, denn die Unwissenheit war ein starker Verbündeter des Feindes.
Jedoch bedeuteten ein massiver Zaun, der in Windeseile um das Anwesen errichtet wurde, und nur ein vertrauenswürdiger Huscarl, der diese Einfriedung bewachte, keine ausreichende Sicherheit. Nicht für seine Minamia!
Gerade demonstrierte Till ihm in dem neu eingerichteten Überwachungsraum das aktuelle Sicherheitssystem.
Aufmerksam schaute der Lysane auf einen Monitor, auf dem die Auffahrt des Anwesens erschien. Ein befestigter Weg bahnte sich durch die Rasenfläche zum Haus. Davor parkte Tills Sportwagen neben Tristans Scirocco.
„Jeder Winkel des Grundstückes kann eingesehen werden“, erklärte Till monoton, während er die Tastatur betätigte. Die einzelnen Bereiche des Anwesens tauchten auf den Bildschirmen auf: der Hauseingang, die Garage, verschiedene Blickwinkel des Gartens.
Plötzlich erschien Nela im Bild, die mit zügigen Schritten die Auffahrt Richtung Straße entlangging.
„Und im Gebäude?“, fragte Jarick abwesend, als sein Blick sich starr auf seine Nela richtete. Genau nahmen seine lysanischen Augen sie unter die Lupe. Ihr weißes Sommerkleid mit einem dezenten Blümchenaufdruck schmeichelte ihrer Figur, ihre zarten Füße steckten in weißen Ballerinas, und ihre langen dunkelblonden Haare waren zu einem Zopf zusammengebunden. Ihr aufrechter Gang war beschwingt, strahlte Zuversicht aus, ihre Arme schwangen locker mit. Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel, als er den verführerischen Schwung ihrer Hüften bemerkte. Im nächsten Moment fiel sein Blick auf ihre geraden Schultern, dann auf ihren entblößten Hals, der ein ungewohnt heftiges Verlangen nach ihrem Lebenssaft weckte. Unweigerlich bahnten sich die magischen Eindrücke ihres letzten Zusammenseins ihren Weg zurück in seine Gedanken, immer noch ihren unverwechselbar, köstlichen Lebenssaft auf der Zunge schmeckend. Sein lysanisches Ich schwelgte in süßen Erinnerungen, während er sich doch eigentlich auf das Gespräch mit Till einlassen sollte.
„Nein. Nela bestand darauf, dass es innerhalb des Hauses keine Videoüberwachung gibt“, antwortete Till kaum Verständnis aufbringend, der eine längere Diskussion mit der Herrin dieser Villa geführt hatte. „Sie legt sehr viel Wert auf ihre Privatsphäre.“
„Mmh“, stimmte Jarick wortkarg zu. Die Erinnerung an Nelas süßen Lebenssaft beherrschte fortwährend seine Aufmerksamkeit.
„Aber in den gemeinschaftlichen Räumen wäre es sehr hilfreich“, warf Till beharrend ein.
„Mmh.“ Am Tor angelangt, stellte Nela sich neben den rustikalen Briefkasten, um ihn mit dem Schlüssel zu öffnen. Jaricks Gedanken wanderten zu seinem unverzeihlichen Kontrollverlust, obwohl er sich zwang, seine Konzentration im Hier und Jetzt zu halten. Unerklärlich war sein triebhaftes Verhalten während ihrer Zweisamkeit. Wie ein drauganischer Jüngling hatte er sich benommen, der noch lernte, seine unterschiedlichen Seiten in Einklang zu bringen; sein lysanisches Ich zu beherrschen. Unverantwortlich gegenüber seiner Nela, zumal die Erinnerung und die Wunde des schmerzhaften Bisses des frevlerischen Draugers noch nicht verblasst waren. Rücksichtslos, seinen egoistischen Gefühlen folgend, nutzte er ihr unschuldiges Vertrauen in einer äußerst intimen Situation aus.
„Vielleicht ändert sie ihre Meinung, wenn du mit ihr redest.“
„Mmh“, brummte Jarick, als Nela einen Stapel Briefe aus dem Kasten hervorholte. Sein schlechtes Gewissen