„Ja, Ansu“, versprach Ivo ergeben, befreite Hannes` Brust von den Mistila, zog ihn auf die Beine und führte ihn zum Ausgang, während er sein Bündnis zu sich rief.
Nachdem die Villa von den Toten und Verletzten befreit und die Alvaren sich verabschiedet hatten, ging Jarick zügig zum Arbeitszimmer. Dort öffnete er die Tür der Geheimkammer. Erleichtert sahen Till, Nela und Tristan ihn an, als sie den kleinen Raum verließen.
„Ist das Problem gelöst?“
„Nein. Tristan schwebt immer noch in Gefahr. Anscheinend hat Theo mehrere Trupps losgeschickt.“
„Na toll“, entfuhr es Tristan verzagt. „Warum muss ausgerechnet ich Todesängste für einen Machtkampf zwischen zwei Lysanen ertragen? Könnt ihr das nicht in einem Zweikampf regeln?“
„An mir liegt es nicht“, unterstützte Jarick den Vorschlag seines zukünftigen Schülers.
Der rebellische Drauger
Spätabends, gerade als die Sonne den fernen Horizont berührte, wurde die Klingel am Tor des Anwesens betätigt. Zügig überwand Nela die wenigen Schritte bis zur Gegensprechanlage. „Wer ist da?“, erkundigte sie sich, als sie den Knopf drückte.
„Johannes Gerber. Ich ersuche ein Gespräch mit Herrn Jarick Richter“, nannte der Besucher sein Anliegen, bevor er nach einer kurzen Pause hastig hinzufügte, „Ivo Lindbur schickt mich.“
„Einen Augenblick.“ Nela verließ das Foyer, begab sich zu Jarick ins Wohnzimmer. Mit geschlossenen Augen saß ihr Wikinger im Lieblingssessel ihres Vaters, während im Fernsehen eine Geschichtsdokumentation lief.
„Wer hat geklingelt?“, fragte Jarick hellwach, als sie neben ihm stand. Zwar benötigte ein Lysane weniger Schlaf als ein Mensch, aber gänzlich konnte auch er nicht auf die Ruhephasen verzichten. Seit fast 40 Stunden war ihr Wikinger wach, um die Villa vor Feinden zu schützen.
„Ein gewisser Herr Gerber möchte dich sprechen“, teilte Nela ihm mit.
„Gerber?“, wiederholte Jarick den Nachnamen mit einem Stirnrunzeln.
„Ivo schickt ihn“, fügte Nela noch hinzu.
„Lass ihn bitte herein.“
„Sicher, dass ich die Tür öffnen soll?“, fragte Nela abwartend.
„Till?“, rief er den Huscarl sogleich, der bereits verschlafen im Wohnzimmer stand. „Öffne Herrn Gerber die Tür.“ Mit zerzausten Haaren, nur mit einer Jeans bekleidet, ging der Huscarl wachsam zur Haustür.
„Guten Abend, Herr Gerber“, begrüßte Till den Gast überdeutlich laut an der Haustür. „Entschuldigen Sie meine Aufmachung.“
„Guten Abend“, erwiderte dieser. „Ich möchte zu Herrn Richter.“
„Wenn Sie mir bitte folgen, Herr Richter befindet sich im Wohnzimmer“, bat Till ihn herein.
Da Jarick Nela nicht ausdrücklich aufforderte, den Raum zu verlassen, um alleine seinen Besuch zu empfangen, blieb sie. Sie musste erfahren, warum dieser Drauger das Gespräch mit Jarick suchte.
Nachdem Till den Drauger ins Wohnzimmer geführt hatte, zog sich der Huscarl zurück. Zumindest gab er es vor, Nela hingegen, bezweifelte es. Gewiss achtete der Huscarl im Hintergrund auf mögliche Gefahren.
Unsicher, den Blick auf den Boden gerichtet, verharrte Johannes Gerber an der Tür. Nela beäugte ihn eingehend. Nach seinem Äußeren zu urteilen, war er ungefähr in Nelas Alter, trug die Kluft eines Motorradfahrers und an seinem Kopf waren die Abdrücke des Helms erkennbar. Er schaute kurz zu Nela, als er ihren neugierigen Blick auf sich spürte.
„Du möchtest mich sprechen?“, durchbrach Jarick die Stille.
Johannes räusperte sich. „Ja.“
„Nun, dann fang an“, forderte Jarick ihn auf, daraufhin sah Johannes erneut zu Nela, diesmal fragend.
„Du kannst frei sprechen“, reagierte Jarick auf seine wortlose Frage.
„Wer ist sie?“, fügte Johannes noch verbal hinzu, als der ältere Lysane ihm keine klare Antwort gab.
„Lunela Vanadis, die Herrin dieser Villa und angehende Großpriorin des Ordens Elhaz. Ihr Wächter ist Tristan Paladin, den du und deine Kumpane letzte Nacht töten wolltet“, stellte Jarick sie vor.
„Ich verstehe“, erwiderte Johannes kleinlaut. „Ich bin gekommen, um mich in aller Form für mein fehlgeleitetes Verhalten bei Ihnen, Herr Richter, Frau Vanadis und Herrn Paladin zu entschuldigen. Außerdem möchte ich mich dafür bedanken, dass Sie mein Leben verschonten.“ Für Nela klangen die Worte des Draugers aufrichtig.
„Wieso hintergehst du deinen Ansu?“, wollte Jarick wissen, ohne auf die Entschuldigung einzugehen.
„Ich hintergehe meinen Ansu nicht...“, entfuhr es Johannes empört.
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ivo sein Einverständnis für dich gab, Fido Tanners Handlanger zu werden. Zudem greifst du Ivos Ansu an“, stellte Jarick fest.
„Ivo wusste nichts davon“, gab Johannes zerknirscht zu. „Woher sollte ich wissen, dass Sie der Ansu meines Ansus sind? Ivo verriet mir nur, Sie seien ein mächtiger Jarl in Asgard, der nur äußerst selten sein Domizil verlasse. Ich gehöre nicht länger zu Fidos Männern“, fügte Johannes bedauernd, aber auch erleichtert hinzu.
„Als Jüngling muss man seinem Ansu bedingungslos gehorchen.“
„Ich bin kein Jüngling“, versetzte der Drauger. „Ich bin Kenninger.“
„Wie alt sind Sie?“, konnte Nela ihre Neugierde nicht zügeln.
„Dieses Jahr werde ich 100, davon habe ich 25 Jahre als Mensch und 75 als Drauger gelebt“, antwortete Johannes ihr.
„Wow, für einen 100-Jährigen haben Sie sich gut gehalten“, äußerte Nela unüberlegt.
„Es ist also wahr, was sich erzählt wird“, erkannte Johannes.
„Was wird sich denn erzählt?“, hakte Nela gleich nach.
„Die zukünftige Großpriorin ist eine Unwissende.“
Nela ergriff die Möglichkeit, mehr über Drauger in Erfahrung zu bringen: „Jüngling? Kenninger?“
„Jüngling ist die Bezeichnung für die ersten sieben Jahre eines Draugers“, erwiderte Johannes. „Danach befindet er sich in der Kenning und ist dementsprechend ein Kenninger.“
„In Asgard verwenden wir die Bezeichnung Zögling für die ersten Jahre und Jüngling für die erste Hälfte der Kenningphase.“
„Wie lange dauert Ihre Kenning noch?“, fragte Nela.
„Noch 100 Jahre. Für jedes menschliche Lebensjahr befinde ich mich sieben Jahre in der Ausbildung als Drauger“, antwortete Johannes.
„Also dauert Ihre Kenning insgesamt 175 Jahre?“, rechnete Nela aus.
„Ja.“
„Johannes, warum hast du dich Fido Tanner angeschlossen, obwohl du dich noch in deiner Kenning befindest?“, forderte Jarick eine Antwort.
„Jugendlicher Leichtsinn?“, gab er mit einem ironischen Unterton zurück. Dafür erntete er von Jarick einen missgestimmten Blick, der ihn augenblicklich in Alarmbereitschaft setzte. Jederzeit konnte dieses bisher doch recht friedliche Gespräch kippen und in einem Kampf enden, deshalb mischte sich Nela erneut in die durchaus interessante Unterhaltung ein.
„Wenn