Utopia - Die komplette Reihe. Sabina S. Schneider. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sabina S. Schneider
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753187013
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setze mich mühevoll auf, taste die Decke entlang und atme erleichtert aus, als ich darunter die Form meiner Oberschenkel mit meinen Fingern spüre. Sie sind da. Meine Beine sind da. Ich lasse meine Hände auf den Oberschenkeln liegen, hoffe so, die Panik unter Kontrolle zu bekommen. Eine irrationale Angst, das ist mir bewusst, und doch ist es schwer, gegen sie anzukommen.

      Die Operationen davor brachten keine so großen Nachwirkungen mit sich und es ist das erste Mal, dass ich sie spüre.

      Die Angst.

      Ich frage mich, ob wir zu behütet aufwachsen. Zu behütet leben. Ich fühle mich wie ein rohes Ei, das auf den Boden zurast – kurz davor zu zerschellen.

      Ist der Mensch wirklich so fragil? Es hat eine Zeit vor den Bots gegeben. Eine Zeit, in der die Menschen selbst für sich gesorgt haben. Sie hatten keine Roboter, die sie Tag und Nacht begleiteten.

      Wann sind wir so schwach geworden? So zerbrechlich?

      Ich muss lachen. Denn ich bin diejenige, die sich das hier angetan hat. Ich habe mich in dem Bewusstsein, dass meine Schale nicht dick ist und das sie aufplatzen wird, von dem sicheren Regal fallen lassen. In der Hoffnung, dass etwas kaputt geht.

      Und es ist etwas kaputt gegangen: meine Hüfte. Sie war zertrümmert. Jetzt habe ich zwei neue Hüftgelenke. Offiziell wurde nur das linke Hüftgelenk repariert. Damit ich aber ausgeglichen Laufen und gute Leistung erbringen kann, hat Trainer den Ersatz beider Gelenke erlaubt.

      Ich bin erleichtert. Das bedeutet einen Unfall weniger. Und das wiederum weniger Schmerzen.

      Die komplette Taubheit meiner Beine, von der Hüfte abwärts, ist furchterregend. Ich hätte mir nie ausmalen können, wie viel Kraft es mich kosten würde, nicht wie ein Kleinkind loszuheulen und zu schreien.

      Ich habe kein Problem mit Schmerzen. Doch die Taubheit ist für mich schwer zu ertragen. Hätte ich dieses Gefühl gekannt, hätte ich vielleicht nicht die Kraft gehabt, den Unfall durchzuziehen.

      Schmerz bedeutet Leben, Fortschritt und Verbesserung. Taubheit ist das Gegenteil. Die Nicht-Existenz schlimmer als der Tod. Die Unfähigkeit, sich zu bewegen. Der Tod des Willens. Denn so sehr ich es versuche, wie sehr ich mich auch konzentriere, bewegt sich nichts. Nicht einmal mein kleiner Zeh.

      Mit jedem Muskelkater werde ich schneller, besser und effizienter. So war es jedenfalls am Anfang. Bis ich an die Grenzen stieß. Ich war bereit den Sport aufzugeben. Mich damit abzufinden, dass ich nicht besser werde, egal wie viel ich trainiere. Jeder hat Grenzen. Doch als ich angefangen habe, dachte ich nicht an sie.

      Habe ich überhaupt an Leistung gedacht?

      Wann wurde das Ergebnis wichtiger als der Akt selbst?

      Wann bin ich gelaufen, nicht um frei zu sein, sondern um schneller zu sein als das letzte Mal?

      Ich kann es nicht sagen.

      Könnte Trainer es? Ist in seinen Aufzeichnungen vermerkt, wann ich das Lachen verloren habe, den Spaß? Trainer registriert alles, archiviert und agiert entsprechend. Trainer hat mich nach den Vorstellungen meiner Eltern geformt, mir beim Aufwachsen geholfen, mich effizient gemacht, wo ich effizient sein wollte. Ich musste es nur sagen.

      Er hat mein Trainingsprogramm zusammengestellt. Meinen Ernährungsplan perfektioniert. Mich perfektioniert. Bis es keine Luft nach oben mehr gab.

      Ich bin schnell. Schneller als jeder andere in der Gemeinschaft oder den Gemeinschaften innerhalb eines Hundert-Kilometerradius‘. Und es hätte mir gereicht, wenn ich nicht über den Tellerrand geschaut hätte. Wenn ich ihm nicht begegnet wäre. Wenn ich nicht gestolpert und meine Sehnen irreparabel geschädigt hätte.

      „Keine Angst!“, hat er gesagt und mich im Arm gehalten. „Keine Angst! Du wirst wieder laufen können. Und du wirst schneller sein als zuvor.“

      Hätte ich das Laufen aufgegeben, wenn er mir nicht versprochen hätte, dass ich schneller werden würde? Hätte ich mich etwas anderem zugewendet, wenn ich nicht tatsächlich schneller geworden wäre?

      Während ich meine Beine nicht spüre und im Bett liege, weiß ich, dass es nur eine weitere Grenze ist, die nach all den OPs auf mich wartet. Doch ich kann nicht aufhören. Nicht, bis diese Grenze erreicht ist.

      Es ist eine Sucht. Ich weiß das.

      Wird er am Ende, wenn die Grenze erreicht ist, auf mich warten? Wird er da sein und mich in den Arm nehmen und mir eine neue Grenze zeigen, auf die ich hinarbeiten kann?

      Wie kann eine Begegnung – ein Lauf – ein ganzes Leben ändern, einen Körper? Meinen Körper?

      Die Verbesserungen sind wie ein Rausch.

      Mit jeder Operation werde ich effizienter, stärker, schneller, besser. Kann ich bei meinen Beinen aufhören? In welche Richtung werde ich gehen, wenn ich mich beim Laufen nicht mehr steigern kann?

      Ich bin kein Mannschaftsport-Typ. Das habe ich früh erkannt. Dafür bin ich zu ehrgeizig. Ich weiß, dass mein Vater sich Ehrgeiz gewünscht hat. Es stand ganz oben auf der Liste der Wunscheigenschaften. Dank Noem weiß ich das. Oder wegen Noem? Könnte ich mich von dem Wissen trennen, wie von geliebten Laufschuhen, die ich irreparabel verbraucht und zerschunden habe, die ich zum Recyceln abgebe?

      Wäre es leichter, wenn ich es nicht wüsste? Würde es etwas ändern?

      Ein vorgeschriebener Plan meines Lebens. Es hat eine Schwere an sich und eine Leichtigkeit zu wissen, dass es nicht die eigene Entwicklung, Neigung oder gar Interessen sind, die einen zu dem gemacht haben, was man ist. Bei mir jedenfalls. Ich weiß, was man sich von mir erhofft. Ich weiß, wo meine Stärken liegen. Und das ist gut. In einer Welt, in der alles möglich ist, all deine Wünsche erfüllt werden, ist es gut, wenn man eine Richtung vorgezeigt bekommt.

      Nicht alle Lebenspläne, wie ich sie heimlich nenne, sind eindeutig. Ich kenne nur Noems, Avnas und meinen. Und nur aus meinem ist ersichtlich, was ich kann und können werde. Auch wenn ich es nicht zeige, habe ich Mitleid mit Avna. Sie ist erschaffen worden, um schön zu sein und Kunst zu lieben. Mehr nicht. Keine bestimmten Talente, Fähigkeiten oder Neigungen. Kunst und Musik. Ohne Spezifizierung.

      Noems Liste ist widersprüchlich, hat sich nach einem Kompromiss zweier Menschen angefühlt, die nicht unterschiedlicher sein könnten.

      Ist er deswegen so seltsam geworden?

      Seine LEE außer Funktion zu setzen, das passiert bei eifrigen Kindern schon mal. Besonders, wenn sie sich für Technik und Software interessieren. Aber nicht mehr in seinem Alter, nicht so und nicht dreimal in so kurzer Zeit.

      Au-pair hat ihn noch nicht gemeldet. Sie ist sicher noch bei der Analyse und auf der Suche nach einer Diagnose. Doch wie oft wird sie es noch durchgehen lassen, ohne den Fehler nicht bei sich zu suchen, sondern bei Noem?

      Ich möchte mir nicht ausmalen, was passieren würde, wenn Noem als Fehlfunktion eingestuft werden würde. Eine akribische Genkontrolle, flexible Protokolle in der Entwicklungsphase und Verhaltenskorrekturen verhindern jede Form von Geisteskrankheiten. Und es ist seit Jahrzehnten kein Fall mehr an die Öffentlichkeit gedrungen, der nachweisbar wäre.

      Was man mit einem kranken Menschen machen würde, ist nicht ganz klar. Ich habe recherchiert, aber nur wenige Aufzeichnungen über die Maßnahmen in den Kliniken für Geisteskranke gefunden. Laut Noem machen sie uns nur Informationen zugänglich, die sie als ungefährlich einstufen.

      Für mich eine sinnvolle Kategorisierung.

      Fehlinformationen können gefährlich sein.

      Propaganda hat in der Geschichte der Menschheit viel Schlimmes geschaffen. Eine Filterung der Informationen ist sinnvoll. Vor allem auch nach Interessen und allgemein wichtigen Informationen. Was soll ich mit Newsfeeds über den neuesten Rockschnitt, neue Trock-Kompositionen oder das Comeback von Sepia bei Fotographien?

      Automatisch geht meine Hand zu dem Comkanal, der seit über einem Jahr leer ist. Mehr als Stille finde ich hier nicht. Keine Sprachnachricht, keine Texte. Als hätte es ihn nie gegeben. Als hätte er mein Leben nicht