Utopia - Die komplette Reihe. Sabina S. Schneider. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sabina S. Schneider
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753187013
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Garten, perfekt gepflegt und symmetrisch angeordnet, doch dezent und nicht aufdringlich, rücken in den Hintergrund. Eine riesige Leinwand steht auf einem Stativ mitten im Raum und ich gehe hypnotisiert darauf zu.

      Rotes wallendes Haar, das trotz seiner Wildheit eine Ordnung zu haben scheint. Blaue Augen mit einem Stich Violett und eine perfekte Haut, fast so weiß wie Marmor. Es ist nur ein Gesicht.

      Es ist mein Gesicht.

      Und doch nicht.

      Lean hat mich gemalt. So wie er mich sieht. Und ich sehe in seinen Augen perfekt aus. Wie eine unantastbare Göttin.

      „Das ist wunderschön, Lean“, hauche ich und vergesse nervös und ungeschickt zu sein.

      „Du bist wunderschön!“, flüstert er in mein Ohr. Er steht direkt hinter mir und ich fühle seinen Atem in meinem Nacken.

      „Ich würde gerne den Rest von dir malen. Den Pinsel jede deiner Kurven ertasten lassen. Darf ich dich malen, Avna?“

      Ein Schauder jagt über meinen Rücken und ich nicke stumm. Leans Arme schließen sich von hinten um mich, öffnen langsam die Knöpfe meines Arbeitskittels, den ich vergessen habe umzuwandeln. Und als er zu Boden fällt, stehe ich nackt vor ihm.

      Lean tritt vor mich, streckt mir seine Hand hin und ich lege meine vertrauensvoll in seine. Er führt mich in die Mitte des Raumes. Die Sonne geht gerade unter. Wir sind umgeben von Sternen. Sanftes Licht erleuchtet jede Kurve meines Körpers und Lean steht einfach nur da, sieht mich eine Ewigkeit an. Dann greifen seine Finger zum Pinsel.

      Ich schaue ihm fasziniert zu und stelle mir vor, dass alles um mich herum echt wäre. Dass ich in der Realität nackt vor ihm sitze und er mich malt. Ich vermeide es, auf seine Wange mit der fehlenden Narbe zu blicken, will mich dem Trug hingeben, dass dies hier real ist und nicht nur ein virtuelles Spiel.

      Er könnte das Bild einfach digital kopieren und mich malen. Doch ich sitze hier und sehe zu, wie er malt. Wie er mich malt.

      Ich weiß nicht, wie lange es dauert, bis er seinen Pinsel hinlegt und auf mich zugeht. Seine Hände umschlingen mich, dann zieht er mir meinen Kittel über die Schultern und knöpft ihn zu.

      „Du bist wunderschön … Du bist perfekt, ein Meisterwerk“, sagt er und blickt mir in die Augen.

      Ich sollte mich über seine Worte freuen, will mich über seine Worte freuen. Also lächle ich und schlucke den bitteren Geschmack herunter. Ich ignoriere das Echo in meinem Kopf, das ein Meisterwerk zu einem künstlichen Ding verformt.

      „Irgendwann kannst du mich vielleicht wirklich malen. Meinen wahren Körper auf einer realen Leinwand“, versuche ich mich an dem Gedanken zu erfreuen und den bitteren Geschmack zu überdecken.

      „Das hier ist genau richtig. Es ist perfekt. Es gibt nichts in der Realität, das dies hier übertrumpfen kann“, erwidert Lean.

      Und bevor ich protestieren kann, sind seine Lippen auf meinen. Obwohl das hier nicht echt ist, nicht real, prickelt mein Körper und Blitze zucken durch meinen Unterleib. Wenn das hier virtuell ist, wie fühlt es sich dann erst in der Wirklichkeit an?

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      Noem – Verlangen

      „Ich möchte für euch eine Welt schaffen, in der Begierde nur noch im Verlangen nach einem anderen Menschen existiert. Wenn Liebe, Zuneigung, Freundschaft und Bewunderung die einzigen Entlohnungen sind. Eine Welt, in der Geld keinen Wert hat.“

       Programmierer 2073

      Der Raum ist dunkel, weil ich ihn so programmiert habe. Lediglich ein seichtes Licht erhellt hier und da Stellen. Ich weiß, dass ich auch sie perfekt programmiert habe, doch wenn ich bloß Schatten sehe, ihr nackter Körper nur gelegentlich wie ein Blitzschlag aufleuchtet, dann kann ich mir vorstellen, dass das hier wirklich Karina ist.

      Dass es ihre Arme sind, die sich um meinen Nacken legen, ihre Hüfte, die sich grazil bewegt. Erst langsam, dann immer schneller.

      Doch in dem Moment, in dem ich komme, weiß ich, dass es nicht echt ist. Nur ein ausgearbeiteter Gedanke in meinem Gehirn, dem ich im virtuellen Raum Form verliehen habe.

      Solche Räume sind normal. Viele Jugendliche und noch mehr Erwachsene greifen auf sie zu.

      Singles, die es mit stereotypischen Modellen treiben.

      Paare, die sich virtuell die Gehirne rausvögeln.

      Kranke, die jede Art ihrer Perversion, so abgedreht sie auch sein mag, hier ausleben.

      Ich habe vieles gesehen.

      Bevor ich auch nur daran gedacht habe, einen solchen Raum zu benutzen, bin ich dem Datenstrom gefolgt. Mein Trojaner ist noch nicht im System aufgefallen, oder sie dulden ihn einfach. Mal sehen wie lange.

      Es ist richtig, dass niemand Zugang zu den Daten hat. Jedenfalls kein Mensch. Und doch werden sie, wie alles andere auch, gespeichert und archiviert.

      Auch meine Daten, die in diesem Raum durch Wunschvorstellungen von Tasten, Küssen, Streicheln und Eindringen generiert werden, allerdings unter anderem Namen. Ein Pseudonym, das sie nicht zuordnen können.

      Sie … Während ich noch den vermeintlich warmen Körper des Mädchens im Arm halte, dem heimlich mein Herz gehört, denke ich darüber nach, wer sie sind.

      Reine Ansammlungen von Daten? Programme, die nicht nur unser Leben regulieren, sondern auch unsere Geburt? Die noch vor unserer Entstehung eingreifen, um etwas zu schaffen, das … Das was? Was ist ihr Ziel? Eine unendliche Schleife von Geburten, Tode und Datensammlungen?

      Das scheint zu simpel, zu sinnlos und zu unbefriedigend. Eine solche Realität kann ich nicht akzeptieren. Es muss mehr dahinter stecken. Und dieser Gedanke nach mehr – mehr Sinn, mehr Geheimnisse, einfach mehr – erfüllt mich.

      Die Vorfreude steigert sich in Verlangen und als ich mich auf die virtuelle Karina rolle, ohne Vorspiel in sie eindringe, bin ich in der Welt des Selbstbelügens beseelt von dem Gedanken nach Wahrheit und Sinnhaftigkeit.

      Und ich vergesse kurz, warum ich diesen Raum benutze. Ich wäre nicht hier, wenn es Au-pair nicht gäbe. Mir wird schlecht, wenn ich an das erste Mal denke, als sie ins Zimmer kam, und ich mich gerade bereit machte. Das war vor zwei Jahren. Damals war ich vierzehn.

      Nackt und mit meinem Schwanz in der Hand lag ich auf meinem Bett. Es war das erste Mal. Ich hatte sie weggeschickt. Und doch kam sie herein. Sie muss die Veränderung meiner Körperfunktionen bemerkt haben.

      Als ich sie angeschrien habe, hat sie nur geantwortet: „Es ist eine normale Entwicklung der menschlichen Sexualtriebe. Eine Funktion der Artenerhaltung.“

      In diesem Moment habe ich sie zum ersten Mal gehasst. Zum ersten Mal die Erniedrigung empfunden und die Ausweglosigkeit.

      Wenn ich Au-pair auch für ein paar Momente in der virtuellen Welt vergessen kann, ist das nicht genug. Sie ist immer da, beobachtet und dokumentiert. Das Paradoxon ist erstaunlich und furchterregend. Um der Maschine zu entfliehen, muss ich Schutz im virtuellen Raum suchen. Und Au-pair wird immer auf die eine oder andere Weise da sein. Wenn nicht als Bot, wird sie zu meinem Avatar werden und mir bliebe nicht einmal mehr hier meine Freiheit. Nicht ohne zu kämpfen oder auf der Hut zu sein.

      Diese Welt der Freiheit, in der wir Menschen nichts mehr tun müssen, all unsere Bedürfnisse gestillt werden –wir sind doch nichts anderes als Experimente, die beobachtet und analysiert werden.

      Und hier in meinem virtuellen Raum, schwitzend und keuchend, weil es so von der Natur vorgesehen wurde, wird eine Idee in mir geboren und ein Weg öffnet sich vor mir, der mir die Wahrheit offenbaren wird.

      Und nicht nur mir.

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