Ich wünschte, ich hätte ihn direkt nach Noems Dateneinbruch zerstört. Dann würden mich seine Einzelteile nicht auslachen. Dann hätte ich einen Grund, auf Noem wütend zu sein und nicht auf mich. Nicht auf diesen Körper, der – egal wie viel ich trainiere – nicht mehr schneller wird.
Ich sperre meinen Geist vor diesen Gedanken, gehe in Position. Atme tief ein und aus. Starre nach vorne. Visualisiere, wie ich als erstes durch die Ziellinie laufe und nehme niemanden um mich herum war.
Heute kann ich dem Gefühl der Kontrolllosigkeit entlaufen. Ich muss. Ich bin mehr als zusammengepatschte Eigenschaften, die sich meine Eltern ausgedacht haben.
Ich höre den Schuss und renne los. Jede Faser in meinem Körper ist aktiv und mein Gehirn schaltet sich aus. Ich sehe nur das Ziel, als ein Schatten an mir vorbeizieht.
Jemand ist schneller als ich!
Der Gedanke ist einmalig, ungewohnt und bringt meinen kompletten Rhythmus durcheinander. Und dann passiert es. Ich trete falsch auf. Ein beißender Schmerz durchzuckt meinen Knöchel und ich falle. Ein Schrei entreißt sich meinen Lippen und ein primärer Gedanke beseelt mich: Ich werde nie wieder Rennen laufen können.
Arme stützen mich auf – sie sind menschlich. Die dunkelsten Augen, die ich je gesehen habe, blicken mich aus einem verschwitzen Gesicht heraus an.
„Du wirst wieder laufen können. Schneller sein als jemals zuvor. Keine Angst!“
Er hebt mich hoch und trägt mich zur Krankenstation. Das Rennen wird abgebrochen, die Zeiten aus den Archiven gestrichen.
Ich habe nicht verloren.
Avna – Liebe
„Wie sähe eine Welt aus, in der wir uns nicht nach den gesellschaftlichen Normen richten, sondern in der wir die Gesellschaft nicht nur formen, sondern in der wir die Gesellschaft sind? Ich habe den Weg gefunden. Folgt mir und ich bringe euch in eine Welt, die ihr nach euren Wünschen anpassen könnt.“
Programmierer 2073
Weder Noem noch Karina kontaktieren mich. Und ich wahre die Stille. Es ist eine heilende Stille. Ich weiß, dass beide verletzt sind. Für mich ist es auch nicht einfach, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Also ziehe ich mich zurück in mein Zimmer und arbeite an einem Projekt. Ein weiteres Bild für meine virtuelle Galerie.
Doch anstatt mich wie sonst von der Musik führen zu lassen, arbeite ich im Stillen und lasse meinen Gedanken freien Lauf, versuche mich und meine verletzten Gefühle zu verstehen.
Warum bin ich verletzt? – Weil ich nicht unter Kontrolle habe, was meine angezüchteten Eigenschaften sind? Weil meine Eltern mein jetziges Ich durch eine Liste geformt haben? Auch bei natürlichen Zeugungen und Geburten ist es die DNA der Eltern, die über Aussehen und Talente, Krankheiten und Stärken entscheidet.
Durch die Brutkästen gehen wir sicher, dass die Kinder alle gesund sind und die Mütter es bleiben, sie keinem Stress ausgesetzt werden.
Ich verstehe meine eigenen Argumente, stimme ihnen zu, und doch ist ein Teil von mir immer noch verstimmt.
Ist es wegen der Dinge, die auf der Liste stehen? Ich habe nur einen kurzen Blick darauf geworfen, dennoch haben sich die Worte in meine Gedanken gefressen. Indifferent und aufs Äußerliche beschränkt mit weiten Neigungen zur Kunst und Musik. Beides breite Felder, in denen ich mich in verschiedene Richtungen entwickeln kann.
Und doch ist ein Teil von mir über die Oberflächlichkeit der Liste erschrocken und ich frage mich, ob ich selbst ebenso oberflächlich bin. Ob ich nicht mehr bin als eine schöne Hülle, die sich wie ein Chamäleon anpasst.
Ich bin nicht einsam.
Ich vermisse zwar Noem und Karina oft, aber nicht, weil ich niemand anderen habe. Meine Gruppe ist offen und in ihrem ständigen Bestreben, kreativ zu sein, agil und fließend.
Noch sind wir nicht der Sucht nach Applaus erlegen. Noch finden wir uns selbst in der Suche nach unserem Medium, unserer eigenen Kunst. Wir sind bereits jetzt schon unterschiedlich wie Wolken und Zuckerwatte, Sonnenschein und Neonröhren.
Ein bitterer Nachgeschmack bleibt auf meiner Zunge zurück und ich finde in einem seltsamen Gedanken Trost, den ich wie eine Decke um mich schlinge.
Ich bin ich selbst, denn ich bin zu etwas anderem geworden, als Mutter es sich erhofft hat. Ihre Enttäuschung über meinen Musikgeschmack, meine Kunst, gibt meiner Persönlichkeit einen Anker. Und ich kann nur über diese Ironie lachen.
Meine Brille fährt aus und zeigt einen ankommenden Com. Meine Wangen brennen, als ich den Namen lese.
Es ist Lean.
In meinem Eifer streiche ich mir übers Haar, klatsche mir auf die brennenden Wangen. Obwohl ich weiß, dass mein Avatar im Chatroom perfekt aussehen wird, bin ich nervös.
Lean ist der beste Maler in unserer Gruppe. Seine Technik ist perfekt und seine Werke voller Ausdruckskraft, lebendig und so fantasiebeladen, dass meine Bilder mir im Gegensatz dazu wie die Kritzeleien einer Dreijährigen vorkommen. Strichmännchen im Vergleich zu epischen Werken.
Lean ist der Erste, dem man die Arbeit mit richtigen Leinwänden erlaubt. Mit echten Pinseln und Farben. Ich bezweifle, dass ich je diesen Status erlangen werde.
Seit ich sabbernd in seiner virtuellen Galerie stand und stammelnd versucht habe, meiner Begeisterung Ausdruck zu verleihen, kommt hin und wieder ein Com von ihm rein und jedes Mal fühlt es sich an, als würde mein Herz dabei zerspringen.
Nanny nennt es Verliebtheit.
Bin ich verliebt?
„Hallo, Avna“, begrüßt mich Leans Avatar. Er ist so perfekt wie seine Bilder. Eine Wiedergabe seiner natürlichen Schönheit. Das blonde, wallende Haar, die himmelblauen Augen. Die breiten Schultern. Nur die Narbe fehlt. Sie besteht eigentlich aus einer dünnen Linie, die sich über seine Wange zieht. Meist trägt er die Haare offen, so dass sie ihm ins Gesicht fallen und die Narbe verdecken. Immer wenn ich sie sehe, weiß ich, dass ich mich in der Realität befinde. Dass die Welt um mich herum echt ist.
Wenn ich jetzt in das perfekte Lächeln blicke, die zurückgebundenen Haare und die makellose Haut betrachte, weiß ich, dass das alles nicht echt ist. Ich schließe die Augen und stelle mir den wahren Lean vor, visualisiere die Narbe und erinnere mich daran, dass es Lean ist, der echte Lean, der sich hinter dem Avatar irgendwo verbirgt und mich angewählt hat.
„Ha… Hallo, Lean …“, stottere ich unsicher und bin erleichtert, dass mein Avatar nicht rot wie eine Tomate wird. Wenn ich jetzt in den Spiegel sehen würde, hätte mein Gesicht sicher die gleiche Farbe wie meine Haare.
„Ich wollte dir mein neues Bild zeigen … Natürlich nur, wenn du es sehen willst“, fügt er schnell hinzu.
Ist Lean auch nervös? Allein der Gedanke an diese Möglichkeit ist atemberaubend und mein Herz erreicht eine neue Frequenz.
„Sehr gerne!“, platzt es mir unbeholfen heraus.
„Das freut mich. Ich schicke dir den Link zu meinem privaten Atelier und warte dort auf dich.“
Ich nicke nur stumm, sehe den Link aufleuchten und berühre ihn ehrfürchtig. Dann betrete ich die Welt von Lean. Es handelt sich um keinen Chatroom. Es ist auch nicht seine öffentlich zugängliche Galerie. Es ist tatsächlich sein privates Atelier. Hier entstehen seine digitalen Werke und ich sauge jede Information in mich auf.
Der Raum ist hell und scheint nur aus Fenstern zu bestehen.