Utopia - Die komplette Reihe. Sabina S. Schneider. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sabina S. Schneider
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753187013
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füllen konnte, das ihre Abwesenheit in meine Gefühlswelt gerissen hat? Ich habe Freunde, die meine Interessen teilen. Eine Verbundenheit allerdings, wie ich sie für Karina und Noem empfunden habe, hat sich nicht aufbauen können.

      Mit niemandem. Nicht einmal mit Lean.

      Meine Wangen glühen bei dem Gedanken an ihn und mein Herz schlägt schneller. Ich kann Nannys Blick auf mir spüren. Sie registriert die Körperfunktionsänderungen, die meine Gefühle hervorrufen, und legt mir beruhigend eine Hand auf meine Schulter

      Ich schäme mich, dass mein Herzrasen nichts mit ihr zu tun hat, sondern mit Lean. Es ist Nannys Tag und ich sollte mich vollkommen auf sie konzentrieren. Das ist auch der Grund, warum ich Lean gebeten habe, heute nicht zu kommen.

      Ein Teil von mir, ein sehr verliebter Teil, wünscht sich, dass er trotzdem da wäre. Dass er mich abholen, zum Geburtsort führen und auf mich warten würde, wenn ich als Erwachsene ohne Nanny wieder herauskomme. Und das ist genau der Punkt.

      Ich werde erwachsen sein. Ich müsste es alleine schaffen. Und ich kenne die Gerüchte, die besagen, dass ich mit Lean zusammen bin, um nicht alleine zu sein. Sie belächeln mich und haben Mitleid mit Lean, den sie hinter vorgehaltener Hand als Nanny-Ersatz bezeichnen.

      Und ich fürchte, dass sie recht haben. Dass ich so an ihm hänge, weil ich jemanden brauche. Irgendjemanden. Deshalb möchte ich Abstand. Ich will allein sein können. Stark genug sein, um mit ihm zusammen sein zu können – weil ich ihn liebe, nicht weil ich ihn brauche.

      „Avna, ein virtueller Avatar ist agil und geographisch nicht gebunden. Er kann auf mehr Datenbanken zugreifen und dir jederzeit, von jedem Ort aus behilflich sein“, versucht mein Vater mich zu trösten.

      Ich nicke, blicke zu Boden, schiebe die Scham und die Gedanken an Lean beiseite. Ich konzentriere mich auf heute und versuche die Tränen zu unterdrücken. Es ist ein Freudentag, kein Trauertag.

      Mein Blick wandert zu Nanny und ich frage mich, wie sie über die Trennung denkt. Ob es für sie überhaupt erst eine Trennung ist?

      Jetzt, vor meinen Eltern, kann ich sie nicht fragen und ich habe mich lange geweigert, darüber zu sprechen – einfach um es wegschieben zu können. Ich habe es zu lange aufgeschoben. Wenn wir das nächste Mal miteinander sprechen werden, dann wird es wie ein Telefonat sein. Wir werden für immer nur telefonieren können.

      „Es ist so weit, Avna. Wenn ihr jetzt nicht losgeht, kommt ihr zu spät.“

      Das Essen, das letzte Essen, das Nanny für mich zubereitet hat, liegt unberührt vor mir. Eine Verschwendung. Mir wird es später sicher leidtun, aber jetzt bekomme ich keinen Bissen herunter.

      Ich erhebe mich vom Tisch, verabschiede mich nicht von meinen Eltern und gehe zur Tür. Warum sollte ich mich verabschieden? Sie werde ich wiedersehen.

      „Was macht sie nur für einen Aufstand! Als würde jemand sterben. Ich verstehe sie nicht …“, begleitet die Stimme meiner Mutter mich nach draußen.

      Ich atme tief ein und aus, unterdrücke jedes Gefühl und mache mich in Richtung Brutstation auf. Die Sonne scheint. Es ist nicht heiß und nicht kalt. Nanny läuft hinter mir her. Ich verlangsame meine Schritte, warte, bis sie aufgeholt hat und greife nach ihrer Hand. Wir gehen schweigend nebeneinander.

      „Es ist kein Abschied, Avna. Ich werde immer für dich da sein.“

      „Ich weiß“, antworte ich einfach und meine Hand krampft sich um ihre kalte. Ich würde gerne ihren Körper behalten, doch ich weiß, dass er recycelt wird. Dass er jemand anderes begleiten wird, wie er mich begleitet hat.

      Die Brutstation ist nicht weit und ich wünsche mir mehr Zeit, als wir schon vor dem Glasgebäude zum Stehen kommen.

      Noem ist bereits da, Karina joggt aus entgegengesetzter Richtung auf uns zu, dicht gefolgt von Trainer. Ihre Augen sind rot. Hat sie geweint? Ich schäme mich, keine Träne vergossenen zu haben.

      Noem nickt mir zu, mehr nicht.

      Karina winkt kurz und läuft an uns vorbei, vermutlich eine Runde um das Gebäude.

      Ich habe weder sie noch ihn seit längerem gesehen, geschweige denn mehr als zwei Worte mit ihnen gewechselt. Wenn ich darüber nachdenke, dass wir letztes Mal vor zwei Jahren, als Noem Au-pair getötet hat und wir zusammen ins Krankenhaus gegangen sind, wirklich Kontakt hatten, werde ich traurig. Nach dem Besuch im Krankenhaus hat sich Noem zurückgezogen. Vor allem von Karina.

      Karina hatte nie viel Zeit neben dem Training. Und ich? Ich … Habe ich wirklich meine ersten und wichtigsten Freunde gemieden? Haben wir uns voneinander entfernt, um uns selbst zu schützen? Um nicht daran erinnert zu werden, was wir doch nicht vergessen können? Diese verfluchten Listen!

      Ich schüttle den Gedanken ab. Dass wir einmal Freunde gewesen sind, lag nur daran, dass wir zur gleichen Zeit die Welt erblickt haben. Mehr nicht. Darauf lässt sich keine Freundschaft aufbauen, die lange hält. Ich hänge mehr mit Gleichgesinnten herum. Wir reden über Kunst und Musik. Manchmal auch über Literatur. Das ist es, was ich will und brauche.

      Lean taucht wieder in meinen Gedanken auf und ich schiebe ihn beiseite.

      Karina soll hin und wieder einen Unfall gehabt haben. Wie viel an ihr noch nicht ausgetauscht worden ist, weiß ich nicht.

      Noem ist nicht mehr auffällig geworden. Ich habe jedenfalls nichts Gegenteiliges gehört.

      Wir wurden gemeinsam geboren und werden heute zusammen für erwachsen erklärt. Einfach so.

      Ich fühle mich nicht erwachsen. Ich weiß nicht einmal, was Erwachsensein bedeutet.

      Es sind noch ein paar andere Jugendliche mit ihren LEEs hier. Sie alle wurden wohl am selben Tag geboren wie wir. Je nach Gemeindegrößen ist eine bestimmte Anzahl von Jahresgeburten erlaubt.

      Ich zähle acht Jugendliche. Mich eingeschlossen.

      Ohne es wissentlich zu tun, stelle ich mich neben Noem. Vielleicht aus Gewohnheit. Die anderen hier kenne ich nicht – habe jedenfalls noch nie mit ihnen gesprochen.

      Ich blicke zu Noem und entdecke tiefe Schatten unter seinen Augen.

      „Du siehst müde aus“, sage ich leise.

      Er schnaubt nur, scheint kurz nachzudenken und erwidert: „Ich habe noch an einem Programm gearbeitet, das heute fertig werden musste.“

      „Welches …“ Programm, will ich noch fragen, als Karina bei uns stehen bleibt. Ihre Wangen sind gerötet, doch ihr Atem geht normal, als wäre sie gegangen und nicht gerannt.

      „Hallo“, begrüßt sie uns lächelnd. Sie hat ein schönes Lächeln.

      „Hallo, Karina!“, erwidere ich.

      Noem dreht sich um und Karina versteift sich. Nun weiß ich wieder, warum ich die beiden gemieden habe. Sie stellen meine Welt auf den Kopf. Wie kann aus Zuneigung so etwas werden? Wie kann Freundschaft sich so sehr wandeln? Wie können Gefühle der Liebe so viel Abneigung erzeugen?

      Und wieder wandern meine Gedanken zu Lean. Gibt es eine Zukunft, in der wir uns auch so abgeneigt sind, in der Lean mich hasst, oder in der ich ihn hasse? Oder schlimmer: in der wir uns gleichgütig sind?

      Ich weiß, dass Noem Karina mag. Mehr als mag. Jedenfalls die alte Karina. Diese Karina hier ist jedoch auch mir fremd.

      Mehr als Hallo haben wir uns nicht zu sagen. Und ich bin erleichtert, als die Tür sich öffnet und wir von einem Bot in einen dunklen Raum geführt werden.

      Acht Linkstühle stehen bereit und wir setzen uns. Unsere LEEs stellen sich an unsere Seite. Ich weiß, was passieren wird. Und doch bin ich nervös, als Nanny die Kabel herauszieht und mit dem Comanschluss an meiner Schläfe verbindet, als wäre ich der Roboter und nicht sie.

      Sie stellt sich mir gegenüber auf. Ihre Augen bohren sich in meine, sie leuchten auf und ich spüre, wie sich eine Verbindung aufbaut. Dann durchzuckt mich ein Blitz, ein kleiner Funken, als würde eine Sicherung durchbrennen und Bilder von mir stürzen auf mich ein.