Du hast erst sterben müssen, dass er das eingesehen hat. Nur deshalb hat er sich so zum Positiven verändert.
Aber es wird höchste Zeit, dass ihr beide euch einmal aussprecht! Nur so wirst du vorwärtsgehen können! So und jetzt hör auf Trübsal zu blasen und komm zum Feuer etwas essen!“ Damit stand Ruhi auf und ging weg.
Im Weggehen drehte er sich noch einmal halb um und rief über seine Schulter. „Und nimm diese blöden Kontaktlinsen raus – schwarz steht dir nicht.“ Und er lachte meckernd über seinen Witz.
Rayan war gar nicht aufgefallen, dass die Sonne längst untergegangen war. Trotzdem blieb er noch lange sitzen, bis er schließlich todmüde auf sein Lager fiel und sofort einschlief.
2014 - Tal von Zarifa - Daouds Ankunft
Am nächsten Morgen bekam Carina doch endlich einmal einige lang ersehnte Antworten, denn Daoud traf ein.
Mit breitem Grinsen begrüßte Rayan ihn und die beiden Brüder umarmten sich innig.
Daoud war fast einen halben Kopf kleiner als Rayan, der mit seinen 1,89 m (zumindest diese Information hatte er Carina inzwischen gegeben …) ohnehin die meisten Männer überragte.
Rayans jüngerer Bruder dagegen war nur etwa zehn Zentimeter größer als Carina.
Man hätte die beiden niemals für Brüder gehalten, denn auch ihre Statur war völlig anders. Im Vergleich zu Rayans durchtrainiertem Körper, an den kein Gramm Fett Platz hatte und der eher aufpassen musste, bei seinen anstrengenden Reisen nicht zu viel Gewicht zu verlieren, war Daoud eher mollig, völlig untrainiert und gemütlich.
Lediglich die Augen hatten die gleiche auffallend blaue, faszinierende Farbe.
Doch während Rayan meist wachsam war, der Blick misstrauisch, ironisch oder wütend, wirkte Daoud entspannt, gutmütig und im Vergleich zum Bruder viel zu vertrauensselig.
Im Vergleich zu Rayans kontrollierten Bewegungen, der bei Bedarf blitzschnell war, war Daoud tollpatschig, unbeholfen und langsam.
Und er lachte viel. Manchmal zu viel, er konnte sogar kichern wie ein kleines Kind.
Nach einigen Minuten bereits bemerkte Carina, dass Daouds geistiger Zustand eher dem eines für sein Alter zu großen Kindes entsprach und er eindeutig etwas zurückgeblieben war.
Sie war verblüfft, wie anders Rayan im Umgang mit Daoud war. Auf ihn war er niemals böse und Dinge die Daoud tat oder sagte, waren einfach in Ordnung, obwohl er sie jedem anderen übel genommen hätte.
Anfangs hatte sie etwas Angst, wie sie mit ihm reden sollte, vor allem weil er von ihr absolut fasziniert schien.
Nach einer Weile kam sie dahinter, dass es ihre hellen Haare und die grünen Augen waren, die er offenbar noch niemals bei einer Frau gesehen hatte. Sie schloss daraus, dass er noch nicht aus Zarifa herausgekommen war, oder zumindest nicht weit weg, denn hier hatten die Frauen üblicherweise dunkle Haare und Augen und einige waren verschleiert oder trugen zumindest ein Kopftuch, während Carina „einfach so“ herumlief. Das fand Daoud „cool“ und gestand ihr schon am zweiten Tag seine Liebe, wobei er rot wurde wie ein Teenager.
Carina lächelte ihn freundlich an, war jedoch verlegen, wie sie reagieren sollte. Dabei blickte sie Rayan hilfesuchend an, der jedoch stirnrunzelnd seinen eigenen Gedanken nachzuhängen schien.
Die folgenden Tage verbrachte sie mit Schwimmen, Lesen und manchmal, wenn ihr die Sonne zu intensiv wurde, floh sie in die Bibliothek, von deren reicher Büchersammlung sie nicht genug bekommen konnte. Endlich hatte sie aber auch Zeit zum Sortieren ihrer Notizen und Begutachtung der vielen Bilder, die sie mit ihrer geliebten digitalen Spiegelreflexkamera gemacht hatte.
Dank der luft- und sanddichten Verpackung hatte das komplizierte elektronische Gerät zu Carinas Erleichterung die Torturen der letzten Wochen gut überstanden.
2001 - Oase von Zarifa - Lebenslänglich
Hanif betrat nervös die Hütte von Sedat. Dem ging es augenscheinlich schon viel besser. Er war seit dem letzten Besuch vor zwei Tagen nicht mehr hier gewesen, zu sehr schämte er sich.
Nun hatte der Scheich ihn wieder zu sich bestellt. Er hatte also keine Chance mehr, weiter auszuweichen, sondern musste sich der Realität stellen. Vermutlich wollte Sedat ihm seine Strafe verkünden.
Der hatte ja recht: ER war der Schuldige hier. ER hatte seinen Herrn so schwer verletzt, dass er beinahe gestorben wäre und nun für immer gelähmt bleiben würde. „Ich werde nie wieder auf einem Pferd sitzen können“, die Worte des Scheichs hatten Hanif die ganze Zeit über verfolgt, am Tag - aber auch in den Nächten, in denen er nicht schlafen konnte.
Dass Sedat nicht das Ziel seines Anschlages gewesen war, machte keinen Unterschied.
Hanif erwartete täglich, dass Sedat es den anderen verraten würde. Oder Yasin/Rayan. Aber auch der schien niemandem von seiner Tat berichtet zu haben. Naja, im Gegenzug hatte er selbst ja auch dessen Geheimnis für sich behalten. Sie waren sich in den vergangenen beiden Tagen aus dem Weg gegangen.
Wie würden die anderen reagieren, wenn sie es wüssten? Würden sie Yasin noch immer so respektvoll behandeln, wie sie es jetzt taten? Oder würden sie empfinden wie er, Hanif?
Wobei er sich inzwischen selbst nicht mehr so sicher war, was er eigentlich empfand. Worin hatte der Verrat Rayans damals eigentlich bestanden? Er war von zuhause weggelaufen und hatte sich irgendwelchen Rebellen angeschlossen. Im Vergleich dazu schien sein eigener Verrat viel größer zu sein!
Denn dass er selbst ebenfalls ein Verräter war, hatte er inzwischen begriffen. Auch wenn er Rayan, wie eigentlich beabsichtigt, getroffen hätte, wäre es Verrat gewesen. Schließlich kämpften sie auf der gleichen Seite.
Was war ihm bloß eingefallen, ihn hinterrücks erschießen zu wollen? Wie ein feiger Hund? Noch nie hatte er zu derartigen Mitteln gegriffen.
Sedat hatte recht! Er hatte jede Strafe verdient, die dieser für ihn ersinnen würde.
Der Scheich schien ihm anzusehen, was ihm durch den Kopf ging, denn er lächelte ihm aufmunternd zu. „Hanif, wie schön dich zu sehen. Komm setz dich.“ Hanif begrüßte seinen Herrn auf die traditionell übliche Art und versicherte ihm, wie gut er schon wieder aussah.
„Ich danke dir. Aber du kannst dir denken, dass ich dich nicht gerufen habe, um Höflichkeiten auszutauschen“, kam Sedat unverzüglich zur Sache.
„Zuerst möchte ich dir noch einmal klar machen, dass ich dich liebe wie einen Sohn. In den letzten fünf Jahren warst du mir eine wichtige Stütze und immer für mich da. Dafür bin ich dir dankbar.
Aber du hast eine schreckliche Schuld auf dich geladen. Ich spreche dabei nicht von meiner Verletzung, mein Junge. Sondern davon, dass du einen deiner eigenen Kameraden feige hinterrücks erschießen wolltest. Dass er noch lebt, ist nicht dein Verdienst. Diese Schuld wird dich dein ganzes Leben lang begleiten. Ich weiß, dass du nicht du selbst warst, du warst geblendet von Eifersucht. Doch das macht es nicht besser, sondern schlimmer. Eifersucht ist so eine niedrige Empfindung, dass nur die Schwachen ihr verfallen.
Wahre Krieger stehen über derartigen Empfindungen! Warum bist du nicht zu mir gekommen und hast mit mir gesprochen? Auch das hat mich tief enttäuscht.“ Er hielt inne, um die Wirkung seiner Worte auf Hanif zu beobachten.
Hanifs Wangen wurden feuerrot bis zu seinen Ohren. Die Scham brannte lichterloh in ihm. Er fühlte sich wie ein Schuljunge und er wusste, dass er nichts anderes als diese harten